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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel
Autoren: Barbara Tuchman
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wohin es will, und es führt, so meine ich, zu einer getreuen Schilderung der Zeit, als wenn ich ihr meinen eigenen Plan aufgezwungen hätte.
    Es handelt sich dabei weder um die Lebensgeschichte eines Königs noch einer Königin, weil alle solche Hoheiten in sich schon außergewöhnlich sind und, das sei nur nebenbei bemerkt, weil sie schon zu abgegriffen wirken. Es geht aber auch nicht um einen einfachen Zeitgenossen, weil diese alltäglichen Lebensgeschichten nicht so umfassend sein können, wie ich es wollte. Ich habe auch keinen Klerikalen oder Heiligen ausgewählt, weil sie sich außerhalb der Grenzen meines Verständnisses bewegen. Auch habe ich Frauen gemieden, da jede mittelalterliche Frauengestalt, deren Leben in einer angemessenen Form überliefert ist, atypisch wäre.
    Die Wahl ist nun eingeschränkt auf die Gruppe der Männer des zweiten Standes – auf den Adel –, und sie ist schließlich auf Enguerrand de Coucy VII. gefallen, den letzten einer großen Dynastie und »den erfahrensten und klügsten aller Ritter Frankreichs«. Sein Leben (1340 bis 1397) deckt sich mit dem Zeitabschnitt, dem meine Untersuchung gilt. Außerdem scheint er wie für meinen Plan vorbestimmt, angefangen von dem Tod seiner Mutter in der Zeit während der Seuche bis hin zu seinem sehr passenden eigenen Tod in der kulminierenden Katastrophe des Jahrhunderts.
    Durch seine Hochzeit mit der ältesten Tochter des Königs von England war er beiden kriegführenden Nationen verpflichtet. Das erweiterte den Spielraum und die Interessen seiner Karriere. Er spielte in jedem Drama der Welt seiner Zeit eine Rolle, durchweg eine Hauptrolle, und er hatte zudem den Weitblick, der Schutzherr des größten Geschichtsschreibers seiner Zeit zu werden: Jean Froissart, und so kommt es, daß mehr über ihn bekannt ist, als es
sonst der Fall gewesen wäre. Allerdings existiert kein authentisches Porträt von Enguerrand de Coucy VII. Andererseits gibt es auch einen Vorteil, der diesen Mangel vielleicht auszugleichen vermag: Bis auf einen einzigen Artikel aus dem Jahre 1939 ist über Enguerrand in englischer Sprache nichts veröffentlicht worden, und es gibt auch keine verläßliche Biographie im Französischen außer einer Doktorarbeit von 1890, die jedoch nur im Manuskript existiert. Ich finde meinen Weg gern selbst. [Ref 2]
    Ich muß den Leser bitten, Geduld aufzubringen, bis er die Bekanntschaft von de Coucy macht, weil dieser nur vor dem Hintergrund und den Geschehnissen seiner Zeit zu verstehen ist, und die füllen die ersten sechs Kapitel. Enguerrand hinterläßt erst im Alter von achtzehn Jahren seine erste Spur in der Geschichte, und das geschieht hier nicht vor Kapitel 7.
    Ich komme nun zu den Risiken meiner Unternehmung. Zum ersten gibt es in bezug auf Zahlen, Daten und Fakten nur unsichere und widersprüchliche Informationen. Einigen mögen Daten überflüssig und pedantisch erscheinen, aber sie sind deshalb wesentlich, weil sie die Reihenfolge der Ereignisse bestimmen und so zu einem Verständnis von Ursache und Wirkung führen. Unglücklicherweise ist es aber sehr schwierig, eine mittelalterliche Chronologie festzulegen. Man ging nämlich davon aus, daß das Jahr Ostern beginnt, und da das irgendwann zwischen dem 22. März und dem 22. April sein konnte, bevorzugte man in der Regel als festes Datum den 25. März. Der Wechsel zur modernen Zeitrechnung wurde erst im 16. Jahrhundert vollzogen und nicht vor dem 18. Jahrhundert überall berücksichtigt. Im 14. Jahrhundert war es also einem fortlaufenden Entwirrspiel überlassen, in welches Jahr die Ereignisse von Januar, Februar und März fielen. Erschwert wurde die Zeitrechnung außerdem durch den Gebrauch des königlichen Jahres (beginnend mit der Thronbesteigung des regierenden Monarchen) in den offiziellen englischen Dokumenten und durch den Gebrauch des päpstlichen Jahres in bestimmten anderen Fällen. Zudem vermerkten die Chronisten ein bestimmtes Ereignis nicht unter dem Monatsdatum, sondern nach dem religiösen Kalender. Sie sprachen zum Beispiel von »Zwei Tage vor der Geburt der Jungfrau« oder vom »Montag nach Dreikönige« oder vom
»Geburtstag des heiligen Johannes des Täufers« oder von »Der dritte Sonntag der Fastenzeit«. Dadurch wurden aber nicht nur die Historiker verwirrt, sondern auch die Zeitgenossen des 14. Jahrhunderts selbst, die selten oder nie in einem Datum für ein bestimmtes Ereignis übereinstimmen.
    Zahlen sind auch deshalb so bedeutungsvoll, weil sie anzeigen,
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