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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel
Autoren: Barbara Tuchman
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Tat wurde ein Wappenschild entworfen, das sechs horizontale Streifen trug, rot auf weißem Feld.
    Im Jahre 1116 konnte Thomas [Ref 10] als Erbe seiner Mutter die Gebiete von Marle und La Fère dem Besitz der Coucys anschließen. Ungezähmt setzte er seine Fehden und Räubereien fort, bekämpfte Kirche, Stadt und König gleichermaßen, wobei ihm »der Teufel half«, wie Abt Suger klagte. Er raubte die Pfründe von Mönchsklöstern, folterte Gefangene (laut Überlieferung hängte er Männer an den Hoden auf, bis diese durch das Gewicht des Körpers abrissen), durchschnitt persönlich die Kehlen von dreißig aufständischen Stadtbürgern, verwandelte seine Burgen in »Drachennester und Räuberhöhlen« und wurde von der Kirche exkommuniziert, die ihm in Abwesenheit die Ritterwürde absprach und beschloß, daß dieser Bannspruch allwöchentlich in den Sonntagsgottesdiensten jeder Gemeinde der Picardie verlesen werden mußte. König Ludwig VI. stellte eine Streitmacht gegen Thomas zusammen, und es gelang ihm, geraubte Schlösser und Ländereien zurückzuerobern. Am Ende seines Lebens war auch Thomas gegen jene Hoffnung auf Erlösung und Furcht vor der Hölle nicht gefeit, die der Kirche durch die Jahrhunderte so viele reiche Erbschaften eingebracht hat. Er hinterließ der Abtei von Nogent eine großzügige Schenkung, gründete die nahe gelegene Abtei von Prémontré und starb 1130 im Bett. Er war dreimal verheiratet gewesen, und Abt Guibert hielt ihn für »den verderbtesten Menschen seiner Generation«.
    Was einen Mann wie Thomas de Marle formte, war nicht unbedingt Veranlagung oder Vaterhaß, der in jeder Generation auftreten kann, sondern die Gewöhnung an eine Gewalttätigkeit, die sich ausbreiten konnte, weil es kein wirksames Organ der Kontrolle gab.
    Erst im 12. und 13. Jahrhundert entwickelte sich eine solche Zentralgewalt, während sich die soziale Energie und die künstlerischen Talente Europas auf einen der größten Entwicklungsschübe
der Zivilisationsgeschichte vorbereiteten. Ausgehend vom Handel, fand in den Künsten, der Wissenschaft, der Architektur, der Technik, den Banken und im Kreditwesen in den Städten und Universitäten ein Aufschwung statt, der neue Horizonte aufzeigte und das alltägliche Leben veränderte. Diese zweihundert Jahre waren das Hochmittelalter, das den Kompaß und das Uhrwerk einführte, das Spinnrad und den mechanischen Webstuhl, Wind- und Wassermühlen. Es war die Zeit, in der Marco Polo nach China reiste und Thomas von Aquin mit der scholastischen Ordnung der Wissenschaften begann, in der in Paris, Bologna, Padua und Neapel Universitäten gegründet wurden, in Oxford und Cambridge, in Salamanca und Valladolid, in Montpellier und Toulouse, in der Giotto menschliche Gefühle malte, Roger Bacon sich auf die experimentelle Wissenschaft warf und Dante seinen großen Entwurf menschlichen Schicksals in der Umgangssprache seiner Zeit schrieb. Es war die Zeit, in der die Religiosität sich sowohl in den Predigten des heiligen Franziskus wie auch in der Grausamkeit der Inquisition ausdrückte, in der der Kreuzzug gegen die Albigenser im Namen des rechten Glaubens den Süden Frankreichs in Blut tränkte, während die Kathedralen Bogen um Bogen gegen den Himmel strebten, Triumphe von Kreativität, Technologie und Glauben.
    Sie wurden nicht mit Sklavenarbeit erbaut. Obwohl eine begrenzte Leibeigenschaft bestand, waren die Rechte und Pflichten der Leibeigenen durch Gewohnheitsrecht und Tradition geschützt, und die Arbeit der mittelalterlichen Gesellschaft wurde, anders als in der Antike, von ihren eigenen Mitgliedern ausgeführt.
     
    In Coucy folgte nach dem Tod von Thomas eine sechzigjährige Periode respektablerer Herrschaft unter seinem Sohn Enguerrand II. und seinem Enkel Raoul I., die zu ihrem Vorteil mit der Krone zusammenarbeiteten. Beide folgten den Aufrufen zu den Kreuzzügen des 12. Jahrhunderts und verloren jeweils im Heiligen Land ihr Leben. Vielleicht aus finanziellen Schwierigkeiten heraus verkaufte die Witwe Raouls I. 1197 Coucy-le-Château die Gemeinderechte [Ref 11] für 140 Pfund.
    Eine solche Demokratisierung war weniger ein Schritt auf dem
Weg einer ständigen Liberalisierung, wie es die Historiker des 19. Jahrhunderts gerne gesehen hätten, als vielmehr ein zufälliges Nebenprodukt der adligen Leidenschaft, Krieg zu führen. Da er sich selbst und seine Gefolgschaft mit teuren Waffen, Rüstungen und Pferden ausstatten mußte, kam der Kreuzritter, wenn er überlebte,
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