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Der Falsche Krieg

Titel: Der Falsche Krieg
Autoren: Olivier Roy
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dem Jahr 2005, der auch die politischen Klagen der betroffenen Bevölkerungen berücksichtigte, in Washington ignoriert wurde.
    In den Augen der Neokonservativen ist die strukturelle Ursache des Terrorismus die schlechte »governance« in den muslimischen Ländern im Allgemeinen und den arabischen im Besonderen. Die Reformunfähigkeit wird verkörpert von »Schurkenstaaten« wie dem Irak unter Saddam und dem Iran unter der Herrschaft der Mullahs, die den Terrorismus und den Islamismus instrumentalisieren und Massenvernichtungswaffen anhäufen, um ihre Ziele durchzusetzen.
    Deshalb bildete die Reform der muslimischen Länder das Herzstück der Antiterror-Strategie der Neokonservativen; zumindest am Anfang hatten sie keine negative Meinung über den Islam und vertraten politisch die Gegenposition zu Huntingtons These vom Zusammenprall der Kulturen. Insofern stimmen sie mit der Linken überein, die den Terrorismus durch eine politische und soziale Behandlung der Ursachen beseitigen will, aber die Auswirkungen der amerikanischen Politik zählen die Neokonservativen ausdrücklich nicht zu den Ursachen.
Mit der Linken teilen sie das Vertrauen in die vom Volk ausgehende Dynamik sowie ein Misstrauen gegen die Eliten an der Macht, sie sind skeptisch gegenüber dem Staat und verteidigen das Konzept der Zivilgesellschaft, deren Säulen für sie allerdings unternehmerisch gesinnte Individuen und demokratische Persönlichkeiten sind und nicht kollektive Bewegungen. Sie denken universalistisch und glauben, dass alle in den Genuss politischer Werte wie der Demokratie kommen können. Sie befürworten den Interventionismus und machen sich die vor allem in linken Kreisen entwickelte Theorie vom Recht auf Einmischung zu eigen.
    Mit anderen Worten, die Neokonservativen verkörpern keineswegs eine konservativ-reaktionäre Tradition, sondern machen viele Anleihen beim reformistischen Denken der Linken und schöpfen aus dem militanten Universalismus, der für die siebziger und achtziger Jahre typisch war. Diese Entwicklungsideologie ist von zentraler Bedeutung, denn in ihr kulminiert die Evolution der humanitären Frage, seit die Idee vom Recht auf Einmischung erstmals aufkam. Im Gegensatz zu den Linken gehört für die Neokonservativen zur Demokratie auf jeden Fall das uneingeschränkte Bekenntnis zu den Grundsätzen der Marktwirtschaft und damit auch zur Privatisierung. Anders als die Streiter im Namen der Dritten Welt klammern sie politische Ursachen aus, und sie definieren den Kreis der »zivilen« Akteure anders. Die Fürsprecher der Dritten Welt verstehen die Akteure kollektiv (Völker, Klassen, Frauen, Gemeinschaften, Minderheiten, politische Bewegungen). Sie
sind auf ihren Antiamerikanismus fixiert und verteidigen deshalb paradoxerweise autoritäre Staaten, Diktatoren und populistische Führer - zu Lasten der Demokratie, die zu einer »rechten« Parole wird, der zufolge der einzelne Bürger wichtiger ist als die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv. Für die Neokonservativen wie für alle Befürworter einer »nachhaltigen Entwicklung« ist demgegenüber das Individuum der maßgebliche Akteur. Sie sind antitotalitär und überzeugt, dass die Demokratie auf den Werten des Individualismus und des Marktes aufbaut. Ihre Weigerung, die kollektive Dimension mit zu berücksichtigen, führt dazu, dass die Bedeutung kultureller Vorstellungen übersehen wird, angefangen bei nationaler Zugehörigkeit und religiöser Identität, die beide im regionalen Widerstand gegen das Projekt eines Großraums Mittlerer Osten zum Tragen kommen. Insofern vertreten die Neokonservativen auch eine antikulturalistische Position, was sie im Übrigen von dem Mann trennt, der als ihr Mentor in Fragen des Nahen Ostens bezeichnet wurde: Bernard Lewis. Er glaubt nicht, dass eine rasche Demokratisierung der arabischen Gesellschaften möglich ist und stimmt in diesem Punkt mit Realisten wie Kissinger und den israelischen Sachverständigen überein.

Der Großraum Mittlerer Osten: Ein Musterbeispiel für Entwicklungstheorien
    Seit 2006, da das Scheitern der Irak-Strategie offensichtlich ist, hat Washingtons Begeisterung für die Demokratisierung nachgelassen. Es wäre falsch, daraus zu folgern, dass die Vision der Neokonservativen nur eine Schrulle war, mit der man Schiffbruch erlitt. Die dahinter stehende Philosophie ist heute die herrschende Lehre in den großen Organisationen (von den Vereinten Nationen über die Europäische Union bis zur Weltbank). Die
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