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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius
Autoren: Jakob Wassermann
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Auge und Sammeldienst des Auges), sah er den Vater an wie einen Turm, der keinen Zugang hat, keine Türen, keine Fenster, der nur gewaltig ragt und von unten bis oben Geheimnisse birgt. Seine tiefe Bewunderung war einer ebenso tiefen Furcht verschwistert. Als einziger Sohn, mutterlos, stand er ihm unerhört allein gegenüber. Dieses Gegenüberstehen wurde ihm durchaus zum Bild, und schickte er sich an, im Bilde, ihm entgegenzutreten, so wich der Vater um ebenso viele Schritte zurück; trat andererseits dieser auf ihn zu, so erfaßte ihn die Furcht und zwang ihn zur Vorsicht. Der Ruf seiner Strenge, seiner Unerbittlichkeit, seiner stählernen Grundsätze war schon früh zu ihm gedrungen, hieß man ihn doch im Volk den blutigen Andergast, sehr mit Unrecht freilich, denn ihn erfüllte bis in die Poren, bis zur Steinwerdung beinahe das Bewußtsein hoher Pflicht und hohen Amtes. Aber solche Worte sind ambulant wie giftige Bakterien, und kam es Etzel auch nicht ausdrücklich zu Ohren, so fühlte er doch den Widerhall, und seine Träume (da er mit wachen Sinnen die Augen davor verschloß und die Phantasie nicht daran rühren ließ) produzierten Gestalten wie aus dem Danteschen Höllenkreis – alles ist ja von Uranfang da im Menschen, auch das Niegesehene, Niegewußte –; der Vater stand dann in einer feurigen Lohe und hielt Gericht über die Scharen der Verdammten.
    3

    Herr von Andergast saß im Halbschatten, er konnte das volle elektrische Licht nicht vertragen, seine Augen entzündeten sich leicht davon; mit den Augen waren alle Andergasts nicht in Ordnung, die alte Generalin litt schon seit Jahrzehnten an einer Störung des Sehnervs. Vielleicht hatte das eine tiefere Bedeutung: wer bloß mit den Augen lebt, leidet durch die Augen. Hatte doch auch die intensive Veilchenbläue der Augen des Herrn von Andergast etwas Abnormes. Er saß mit übereinandergeschlagenen Beinen, der Oberkörper war fast zwangvoll gereckt, ebenso der lang-ovale Kopf mit der kahlen, wie poliert glänzenden Schädelwölbung und der bis auf einen Millimeter kurzgeschorenen eisengrauen Randbehaarung. In seiner thronenden Haltung und Halbabgekehrtheit war etwas, wodurch er Etzels Blick zu sich her spann; als spule er Fäden auf ein Weberschiff, zog er die Blicke des Sohnes her, schien es aber weder zu wissen noch zu wollen. Dem Knaben war die Silhouette des halbabgekehrt, mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzenden Vaters wie ein täglich gesehenes starres Emblem vertraut. In der Tat hatte er Ähnlichkeit mit einer ägyptischen Tempelfigur, wenn man ihn im Halbschatten flüchtig betrachtete. Vertrautwerden des Starren, darin liegt viel Unheil, Vertrautsein, das kein Lösendes und Aufschließendes hat. Die Scheu und die empfundene Entfernung blieben immer gleich, auch die doppelte Gefaßtheit: erstens auf das mögliche Sinken der Kältegrade, sodann auf die Minute, wo man »entlassen« wurde. Stets sah er mit der nämlichen Spannung in den Halbschatten hinüber, so wie heute spürte er jeden Abend ein banges Erstaunen über die athletische Figur, die starke Stirn, die starke, gerade Nase, die starken Lippen, den starken Hals, der durch den kurzgeschnittenen, sorgfältig gepflegten und schon ergrauten Spitzbart nur zum Teil verdeckt wurde. Über seine Person war ein undefinierbarer Hauch von Melancholie gebreitet, eine verdunkelnde Unzufriedenheit, wie sie Menschen eigen ist, die nicht der von ihnen geglaubten Bestimmung leben können und, abgelenkt von dem Ziel, das sie sich einst vorgenommen haben, ein Einst, an welches sie sich nur wie an eine Phantasmagorie erinnern, ihre Enttäuschung hinter einem Panzer von Stolz und Unnahbarkeit vor den Blicken der Welt sichern. Was ihnen vor sich selber Wert verleiht und worin sie sich mit jeder Erfahrung, jeder Enttäuschung befestigen, ist das Gefühl der Isolierung. Indem sie sich schließlich darin verlieren, werden sie so fremd, so unerratbar, so abseitig, daß es scheint, als gebe es die Sprache nicht mehr, in der man sich mit ihnen verständigen kann. Das war Etzels vorherrschende Empfindung oft; es ist schrecklich weit bis zu ihm, dachte er, wenn man endlich da ist, macht einen die Müdigkeit vollkommen dumm. Eine etwas übersteigerte Sensitivität vermutlich, aber es war doch so viel Zusammenhang und Anziehung vorhanden, daß das Scheidende und Abstoßende zehnfach quälend wurde. So wie heute hatte er selten darunter gelitten. Ein paarmal war er nahe daran, aufzuspringen und unter dem Vorwand von
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