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Der Fall Lerouge

Der Fall Lerouge

Titel: Der Fall Lerouge
Autoren: Èmile Gabroriau
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Monsieur, er gibt sehr viel für mich aus, das meinen Sie doch wohl? Er behauptet sogar, er hat sich meinetwegen ruiniert. Auch das ist möglich. Aber was geht das mich an? Wenn ich weniger Geld, dafür mehr Liebe bekäme, ich wäre glücklich. Meine Extratouren kommen doch nur aus der Langeweile, aus einem sinnlosen Leben. Ihr Monsieur Gerdy behandelt mich wie eine Hure. Muß ich mich da nicht auch so benehmen? Wir haben uns gegenseitig nichts vorzuwerfen.«
    Â»Aber er verehrt Sie.«
    Â»Er schämt sich meiner. Er hält mich verborgen, wie man ein Verbrechen verbirgt. Monsieur, Sie sind der erste seiner Freunde, mit dem ich mich unterhalte. Nicht einmal ist er mit mir ausgefahren. Wahrscheinlich denkt er, damit legt er keine Ehre ein. Nehmen Sie nur den Dienstag vergangener Woche. Da sind wir ins Theater gegangen. Natürlich hatten wir eine separate Loge. Und was geschah? Ich saß den ganzen Abend allein in der Loge. Er verschwand einfach, noch ehe die Vorstellung begann.«
    Â»Und Sie mußten allein nach Haus fahren?«
    Â»Das nicht. Gegen Schluß des Stücks, so gegen Mitternacht, hatte ich wieder die Ehre seiner Gesellschaft. Und weil Karneval war, sind wir noch auf den Opernball gegangen. Denken Sie, er hätte dort einmal seine Maske gelüftet? Beim Diner mußte ich so tun, als kenne ich ihn nicht. Seine Freunde sollten nichts merken.«
    Also doch ein zusammengezimmertes Alibi!
    Juliette war so sehr mit sich selbst und ihren eigenen Gedanken beschäftigt, daß sie nicht sah, wie Tabaret blaß wurde.
    Â»Ich hoffe, Sie haben sich trotzdem amüsiert«, sagte er mit Mühe.
    Â»Amüsiert?« Juliette zog verächtlich eine Braue hoch. »Sie hätten ihn kaum wiedererkannt. Er war betrunken wie ein Clochard. Dabei verträgt er nichts. Er redete dummes Zeug und fand nichts mehr, weder Mantel noch Schirm, Portemonnaie, Zigarrenetui ...«
    Tabaret konnte sich das nicht länger anhören. Mit einem Satz war er aus dem Sessel, stürzte, ohne sich zu verabschieden, zur Tür und schrie: »Er ist es! Dieser Schurke! Aber er entkommt mir nicht!«
    Juliette klingelte entsetzt nach ihrer Zofe.
    Â»Ich glaube«, sagte sie voller Angst, »ich habe etwas Schlimmes angerichtet. Ich weiß auch nicht, aber ich muß da etwas gesagt haben, was ich nicht hätte sagen dürfen. Das war kein Freund von Noël. Der alte Kerl wollte mich nur aushorchen. Und ich bin ihm auch in die Falle gegangen. Was ihn so in Wut gebracht hat, weiß ich nicht. Aber ich muß Noël warnen. Am besten ist es, ich schreibe ihm ein paar Zeilen. Sieh, dich inzwischen nach einem Boten um.«
    Tabaret stieg in die noch immer wartende Droschke und dirigierte den Kutscher zur Polizeipräfektur.
    Tabarets grenzenloses Vertrauen schlug in ebenso grenzenlosen Haß um. Er fühlte sich von einem abgefeimten Verbrecher aufs gemeinste hintergangen. Dieser Bursche war ja nicht nur ein Mörder. Er hatte alles so in Szene gesetzt, daß der Verdacht auf einen Unschuldigen fallen mußte. Und wer weiß – vielleicht hatte er auch noch den Tod seiner Mutter auf dem Gewissen.
    Noël dem Gericht so schnell wie möglich zu überantworten, dieser Gedanke beherrschte Tabaret.
    Alle diese Sachen, die er auf dem Ball vermißte, hatte Noël natürlich in der Eisenbahn liegenlassen. Er mußte ja so schnell wie möglich wieder bei seiner Geliebten sein, um sein Alibi zu stützen. Hoffentlich ist er nicht auf die Idee gekommen, die verlorenen Gegenstände unter einem falschen Namen abholen zu lassen. Dann habe ich einen Beweis weniger gegen ihn. Was Madame Chaffour aussagen wird, reicht kaum aus. Wenn sie überhaupt aussagt! Die braucht bloß Wind davon zu bekommen, daß ihr Galan in der Klemme sitzt, und sie streitet alles ab, was sie mir erzählt hat.
    Als die Kutsche die Rue Richelieu hinunterfuhr, bekam Tabaret einen Herzanfall.
    Ich darf jetzt nicht sterben, dachte er wieder und wieder. Nein! Sonst entkommt Noël, und außerdem beerbt er mich noch!
    Als er das Schild eines Arztes sah, ließ er halten. Der Arzt gab ihm eine Pille, die nach kurzer Zeit wirkte. So konnte er die Fahrt fortsetzen.
    Er ließ sich auf der Präfektur die nötigen Vollmachten geben und begab sich zum Fundbüro der Eisenbahn. Tabaret hatte sich nicht geirrt. In der Nacht auf Aschermittwoch hatte man in einem Abteil zweiter Klasse des Zuges Nr. 45
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