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Der Esper und die Stadt

Der Esper und die Stadt

Titel: Der Esper und die Stadt
Autoren: Katherine McLean
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seine Gedanken so zu verstärken, wie er nur kann. Er weiß nicht, wie laut er sendet. Aber dieser Depp sendet weder seinen Namen, noch beschreibt er die Stelle, wo er liegt. Er sendet nur ‚Hilfe! Ich hab mir das Bein gebrochen!’ Wenn die Leute diesen Gedanken auffangen, glauben sie, es wäre ihr eigener. Sie denken ‚Hilfe! Ich hab mir das Bein gebrochen.’ Und sie humpeln in die Kliniken und lassen ihre gesunden Beine röntgen. Die Ärzte schicken sie nach Hause. Sie aber fangen den Gedanken ‚Hilfe! Ich hab mir ein Bein gebrochen’ wieder auf, und dann hängen sie in den Kliniken herum und gehen den Ärzten auf die Nerven. Sie haben Angst. Die Rettungsbrigade benutzt sie als Spurenleser. Immer wenn eine anormale Welle von um Hilfe bittenden Leuten in einem Distrikt zu verzeichnen ist, versuchen wir ihr Zentrum ausfindig zu machen und denjenigen zu lokalisieren, der wirklich in Schwierigkeiten steckt.“
    Je mehr er redete, desto besser fühlte ich mich. Ich vergaß die schlechte Laune des Tages, und allmählich hörte es sich so an, als ob die Arbeit der Rettungsbrigade etwas sei, das auch ich tun konnte. Ich weiß, wie sich die Menschen fühlen; man muß nur neben ihnen stehen. Vielleicht würde die Rettungsbrigade mich aufnehmen, wenn ich ihr zeigte, daß ich Menschen finden konnte.
    „Toll“, sagte ich. „Und was ist mit der Verhinderung von Morden? Wie macht ihr das?“
    Ahmed nahm seine silberne Marke aus der Tasche und sah sie sich an. „Ich werde dir ein Beispiel geben. Stell dir einen intelligenten, empfindsamen Jungen mit blühender Phantasie vor. Sein blöder Alter versohlt ihn. Der Junge wird sich hüten, den Mund aufzumachen; er stellt sich nur vor, was er mit dem Kerl tun wird, wenn er erwachsen ist. Jedesmal, wenn der Mann ihn zur Weißglut treibt, ballt der Junge die Fäuste, lächelt und wandelt alles in einen Ball aus geistiger Energie um. Er stellt sich vor, den Schädel des Mannes irgendwann mit einer Axt zu spalten. Er denkt laut. Eine Menge Leute in seinem Distrikt haben nicht viel zu tun. Also denken sie auch nicht nach. Da sie nie viel planen und sich nicht viel vorstellen, handeln sie aufgrund der paar Gedanken, die ihnen kommen. Verstehst du?“
    „Die Deppen tun das, was er denkt.“ Ich grinste.
    Ahmed grinste nicht. Er wandte sich wieder der dicken Frau zu. „Bessie, wir müssen das Opfer lokalisieren. Was sagen die Teeblätter über ihren Aufenthaltsort?“
    „Ich habe nicht gefragt.“ Bessie langte zum Nachbartisch und ergriff eine leere Teetasse, auf deren Boden ein paar aufgeweichte Teeblätter lagen. „Ich hatte gehofft, ihr würdet sie finden.“ Sie stand auf und watschelte in ihre Küche.
    Ich stand immer noch. Ahmed sah mich mit einem widerwilligen Ausdruck an. „Lenk nicht vom Thema ab. Willst du nun bei der Suche helfen oder nicht?“
    Bessie kam zurück. Sie trug ein Tablett mit einer runden Teekanne und einer sauberen Tasse. Sie stellte das Tablett auf dem Tisch ab, füllte die Tasse und schüttete die Hälfte des dampfenden Tees in die Kanne zurück. Ich erinnerte mich daran, daß eine Möglichkeit des Gruppenbewußtseins, Informationen zu bekommen, darin besteht, zuzusehen, wie Menschen bestimmte Umrisse – etwa Tintenkleckse oder Teeblätter – deuten. Also blieb ich still stehen und versuchte, sie nicht durcheinander zu bringen.
    Bessie sank langsam auf den Stuhl, rührte den Tee in der Tasse herum und sah hinein. Wir warteten. Sie schüttelte die Tasse, schaute, schloß dann die Augen und stellte sie hin. Sie saß still da, mit geschlossenen Augen, und hielt die faltigen Lider zusammengepreßt.
    „Was war es?“ fragte Ahmed leise.
    „Nichts, nichts, nur ein …“ Sie hielt keuchend inne. „Nur ein verdammter, lausiger, madendurchsetzter Schädel.“
    Das war ein schlechtes Zeichen; es war schlimmer als die Gewißheit, daß der Gegner beim Kartenspiel vier Asse hat. Tod. Ich kriegte wieder dieses Gefühl, krank zu sein. Bessies Tod?
    „Tut mir leid“, sagte Ahmed. „Aber mach weiter, Bessie. Versuch’s aus einem anderen Winkel. Wir brauchen den Namen und die Adresse.“
    „Sie hat nicht an ihren Namen oder ihre Adresse gedacht.“ Bessies Augen waren immer noch eng geschlossen.
    Ahmed sprach plötzlich mit einer seltsamen Stimme. Ich hatte sie schon einmal gehört, damals, als er noch der Anführer unserer Bande gewesen war. Er hatte einen anderen Jungen hypnotisiert. Es war eine tiefe, ebenmäßige Stimme, die einen bis ins Innerste
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