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Der erschoepfte Mensch

Der erschoepfte Mensch

Titel: Der erschoepfte Mensch
Autoren: Rotraud A. Perner
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einmal die Stimme des Gewissens nicht laut genug zu hören war und wir ihr nicht gefolgt sind.« 239
    C. G. Jung sieht den Menschen in der harmonischen Ausgeglichenheit seines Potenzials im Kreuzungsmittelpunkt der Gegensatzpaare kognitiv Denken – emotional Fühlen und körperlich Empfinden – ahnungsvoll Intuieren ruhen, Alltagsschwankungen als Vibrationen der Lebendigkeit eingerechnet. In dieser Position der Mitte braucht es keinen Energieverlust durch das Verbergen einer ungeliebten Reaktion einer der vier Anteile des Selbst. War es früher die Körperlichkeit – von den Ausscheidungen bis zu den sexuellen Äußerungen –, ist heute die Intuition, das Erahnen, die Spiritualität, der tabuisierte Anteil. Jedoch: Zum vollen Heil gehört die offenbare Selbstmitteilung Gottes, gehört darum auch die Erfüllung des Menschen in dieser offenbaren Gemeinschaft, und diese Verwirklichung liegt jenseits menschlichen Könnens. 240 Intuition kann nicht gezielt »erarbeitet« werden, fällt daher aus dem Spektrum der Anforderungen einer »Leistungsgesellschaft«.
    Wenn man Gott nicht als »toten« Inhalt von Büchern »weiß«, sondern als »lebendige« Erfahrung zu »wissen« erlebt hat, versteht man auch, weshalb Gott »männlich und weiblich zugleich« ist, wie sich aus der Schöpfungsgeschichte ergibt, wenn der Mensch nach seinem Ebenbild geschaffen wird – als Mann und Frau (Genesis 1,27). Gott ist Einheit der Gegensätze, und daher Liebe statt feindliche Dualität bzw. Polarität. Gott erfahren gelingt, wenn man das Konflikthafte, Trennende überwindet. Dazu muss man sich dem Anderen öffnen, muss dessen Energie aufzunehmen wagen, und dazu braucht es eben einen Geist – den Spirit – der Liebe und nicht der Ablehnung, Beseitigung. Diese »Schattenanteile« gilt es möglichst liebevoll anzunehmen und auszuhalten.
    Man muss sich dem Anderen öffnen,
und dazu braucht es den Geist der
Liebe und nicht der Ablehnung.
    Dieser seelische Spagat bringt auch den inneren Konflikt der Überforderung in Einklang: Man möchte so gerne anerkannt und damit sicher sein – und man weiß eigentlich ganz genau, dass man das nie sein wird, weil das außerhalb der Eigenmacht liegt –, und man empfindet Wutgefühle über diese Machtlosigkeit und merkt, wie in der Wut die Kraft verloren geht – und man weiß – noch – nicht, wie man die Situation, aber auch sich samt dem Hadern mit Schicksal und Kraftverlust ändern sollte. Matthew Fox allerdings weiß:»Lernen, in Harmonie zu leben, bedeutet, unseren Sinn für Humor zu entwickeln, wie wir auch die Wahrheit des Leids im Universum durch das Leid unseres Nächsten erfahren«, und er erinnert:»Die Grundkraft der subatomaren Welt ist die elektrische Anziehungskraft zwischen positiv geladenem Kern und negativ geladenen Elektronen des Atoms. Wir sehen daran, dass Harmonie kein ausbalanciertes Gleichgewicht bedeutet, sondern eine vibrierende polare Energie, die alle andere Energie weiterdrängt. Dialektik wird zur Grundlage aller Wirklichkeit.« 241
    Erinnern wir uns an die sechs bzw. sieben Sektoren der gleichgewichtigen Selbstverwirklichung: Der erschöpfte Mensch befindet sich in einem Supermarkt der realen, medialen und virtuellen Einladungen zu sozialen Netzwerken, Zugehörigkeiten zu Neigungs-Gruppen aller Art, Sport- wie auch Kunst- und Kulturveranstaltungen, Bildungsangeboten und sogar virtueller Arbeit im Second life. Auch der Tele-Pfarrer fehlt nicht – nur die echte Spiritualität fehlt. Die erfordert ja Hingabe und nicht »action«, und die braucht Zeit, die einem in der Multitasking- und Doping-Gesellschaft nicht zugestanden wird, nicht von den anderen und nicht von einem selbst. Dann braucht man das Burn-out als Ersatz für die selbstbewusste Entscheidung, endlich Zeit für den Spirit der Sinnesöffnung zu gewinnen.

LITERATURANGABEN
    Andersch Bernd, Ego-Marketing. Erfolgreich und selbstsicher im Beruf. Econ TB, Düsseldorf 1991
    Assmann Jan, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa. Carl Hanser Verlag, München-Wien 2000
    Bach George / Molter Haja, Psychoboom – Wege und Abwege moderner Therapie. Rowohlt TB, Reinbek 1979
    Badelt Felix, Psychosomatische Vorsorgemedizin. Seelische Balance durch polares Denken und altchinesische Phasenwandlungslehre. Springer, Wien-New York 2008
    Balint Enid / Norell J. S. (Hg.), Fünf Minuten pro Patient. Eine Studie über die Interaktionen in der ärztlichen Allgemeinpraxis. Suhrkamp TB, Frankfurt / M.
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