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Der erschoepfte Mensch

Der erschoepfte Mensch

Titel: Der erschoepfte Mensch
Autoren: Rotraud A. Perner
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ein paar Schritte zum Fetischismus 228 oder, wie die Kriminalberichterstattung in letzter Zeit mehrfach aufgezeigt hat, sogar zum Kannibalismus führen? Auch lohnt es sich, das eigene Gespür für Authentizität einzusetzen und zu beobachten, ob allfällige Prophet/innen der leiblichen oder seelischen Freudenerlebnisse bei ihren »Predigten« die lustvolle Erinnerung an ihre eigenen Genusserlebnisse nicht verbergen können oder nur als »Schweinchen Schlau« Buchwissen repetieren.
    Wenn wir lieben,
erfahren wir einen Kraftzuwachs.
    »Der Genuss der Natur ist eine Kunst, bei der alles von der Stimmung und der Persönlichkeit abhängt, weswegen es auch, wie bei jeglicher Kunst, schwerfällt, eine genaue Erklärung ihrer Technik zu geben«, pointiert der chinesisch-amerikanische Literaturprofessor Lin Yutang, und gesteht, er fände die Selbstbiografien von Rudyard Kipling und G. K. Chesterton enttäuschend:»Menschen, Menschen, nichts als Menschen, und niemals ein Wort über Blumen, Vögel, Berge und Bäche!« 229 Das erinnert mich an meinen Vater, der meine Mutter und mich ungern aus der Wohnung ließ, denn:»Was braucht ihr in den Wald spazieren zu gehen? Lest Adalbert Stifter, den ›Hochwald‹der hat das so schön beschrieben, das braucht man sich gar nicht mehr ansehen!« Und der Bruder eines befreundeten kroatischen Komponisten, der meinem Ehemann und mir eine Burg in seiner Heimat zeigen wollte, lehnte die Beteiligung am geplanten Ausflug mit den Worten ab:»So schön, wie ich es mir vorstelle, kann es in Wirklichkeit gar nicht sein!« Er war von Beruf Grafiker, daher sicherlich visuell besonders phantasiebegabt. Er dachte aber nur an sein optisches Erleben – nicht an das soziale, nämlich den Genuss, andere auf Details von Schönheit hinzuweisen und sich von deren Begeisterung anstecken zu lassen. Tatsächlich sind manche Menschen so voll von Energie – göttlicher Inspiration etwa, oder der sexuellen Energie ihrer Liebespartner/innen, was so ziemlich das Gleiche ist –, dass sie keinen weiteren Kraftzuwachs aufnehmen mögen.
GANZHEITLICHES DENKEN
    In der sogenannten Ersten Welt, nämlich in den hochindustrialisierten Ländern, herrscht noch immer das sogenannte cartesianische Denken vor. Diese Bezeichnung folgt dem Gedankengut des französischen Philosophen René Descartes (1596-1650), der strikt zwischen res cogitans (»Denkendes«, d.h. Bewusstsein inklusive Wahrnehmung, Fühlen und Wollen) und res extensa (räumlich »Ausgedehntes«, also Materielles) trennte und hierarchisierte. Daraus abgeleitet erklärt sich die traditionelle Trennung zwischen Körper, Seele und Geist, nicht nur in der westlichen »naturwissenschaftlichen« Medizin, sondern auch in den sogenannten Geisteswissenschaften. Demgegenüber hat sich erst in den beiden letzten Jahrzehnten das »psychosomatische« Diagnostizieren durchgesetzt, bei dem die Auswirkungen seelischer Befindlichkeiten auf den Körper zur Kenntnis genommen werden, auch wenn die vereinigenden Behandlungsmethoden den meisten Fachleuten unbekannt sind. (»Somatopsychische« Wirkungen hingegen werden nicht kritisiert: Dass körperliche Befindlichkeiten seelische Veränderungen hervorrufen können, gehört zur Alltagserfahrung.)
    »Eine sanfte Medizin widersetzt sich dem aus Konkurrenz und Machismo erwachsenen Mythos, ein Heiler würde den Körper erobern oder die Krankheit besiegen«, weiß Matthew Fox, Direktor des »Institute in Culture and Creation Spirituality« in Kalifornien. »Sie widersetzt sich dem Dualismus zwischen Geist und Körper, der impliziert, dass der Intellekt mit seinen technischen Erfindungen das Allheilmittel sei.« 230 Er sieht in den »sanften« Ärzten und Ärztinnen Künstler, die die Kunst des Heilens praktizieren; zu dieser gehöre vor allem, auf den Patienten einzugehen und ihn zu ermutigen, auf den eigenen Körper zu hören, weil sie wissen,»dass kein Mensch und keine Menschengruppe den Körper reparieren kann. Der Körper muss sich immer durch das Wachstum neuer Zellen und den Ersatz alter, sterbender und toter Zellen selbst reparieren.« 231
    Die Gefahr des Dualismus besteht aber nicht nur in der einseitigen Überbewertung des Körpers gegenüber dem Geist (im Sinne von Denkmustern), sondern ebenso umgekehrt. So bekannte die Linzer Körpertherapeutin Andrea Brentano, als sie bei mir ihre Ausbildung in Lebens- und Sozialberatung 232 abschloss, ihre wäre nun klar geworden, was ihr bisher gefehlt habe: neben Sichtweisen und Techniken in
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