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Der erschoepfte Mensch

Der erschoepfte Mensch

Titel: Der erschoepfte Mensch
Autoren: Rotraud A. Perner
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an seiner Sammlung unzähliger Folgen von Soap Operas. Zwei nähme er sich als Einschlafdosis vor – aber dann sage er sich:»Eine geht noch!«, und komme so in ein Suchtverhalten hinein, dass er oft erst um drei Uhr morgens vor dem Videorecorder einschlafe.
    Welche Art von Geist – von »Spirit« – lasse er da als Begleiter seines Schlafes ein, beschloss ich ihn zu fragen. Hoffentlich einen heiteren und keinen kriminellen. Vor allem aber: hoffentlich einen salutogenen!
    Salutogenese wird üblicherweise ausschließlich als gesunde Ernährung, Bewegung und Entspannung propagiert. Dem vermuteten Couch Potatoe, der, die Chipstüte in der Hand, vor dem Fernseher auf dem Sofa lümmelt, soll ein schlechtes Gewissen suggeriert werden, damit er von Salzgebäck und Schokoriegeln auf Obst und Salat umsteigt, seine Depressivität mit Joggen und Nordic Walken bekämpft und psychogenen Muskelverkrampfungen Tai Chi und Yoga entgegensetzt. Von Schlafmangel ist nie die Rede. Dabei sind Schlafstörungen ebenso wie Anomalien im Essverhalten typische Begleitsymptome von depressionsverdächtigem Energiemangel (was sich auch hormonell zeigt).
    Wenn jemand nur ein oder zwei Stunden weniger schläft als gewöhnlich, steigert sich die Tendenz, Fehler zu machen, enorm. Übermüdete Autofahrer etwa zeigen die gleiche Fahruntüchtigkeit wie bei einem Alkoholisierungsgrad von 1,5 Promille. Darüber hinaus, schreibt Ernest Rossi, kann es zu Persönlichkeitsveränderungen und irrationalem Verhalten kommen, wenn der Mangel an Schlaf zusätzlich mit Stress verbunden ist, wie zum Beispiel bei Arbeitsgruppen, die unter Termindruck stehen. Anzeichen dafür sind Verletzlichkeit, erhöhte Suggestibilität, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Flüchtigkeitsfehler, Übersehen wichtiger Details, Reizbarkeit und Ungeduld, Versprecher und Hörfehler. Daher sollte zwischen Arbeitsperioden genügend Zeit zum Schlafen genutzt werden. 237 Wenn aber neuerdings angeregt wird, man möge im Arbeitsalltag Räume und Zeiten für Power Nappings – Kurzschlafphasen von 10 bis 15 Minuten – zur Regeneration verbrauchter Arbeitskraft vorsehen, sehe ich darin nur einen getarnten Versuch zur Steigerung des Arbeitsoutputs. »Nicht die Maschine ist zum Ersatz für menschliche Energie geworden, sondern der Mensch zum Ersatz für die Maschine«, wie Erich Fromm mahnte 238 , und so meint man, ihm Leerlauf verordnen zu können, statt dass man die Diskriminierungen unterbindet, mit denen jemand zu rechnen hat, wenn er oder sie sich vom Arbeitsplatz entfernt oder ganz im Gegenteil, wo das möglich ist, am Schreibtisch eine Ruhepause einlegt. (Außerdem rauchen viele Menschen nur, weil dies die einzige Pausenrechtfertigung darstellt – denn sich nur eine »Atempause« zu gestatten, löst bereits die pseudoelterliche Aggression des »Hast du nichts zu tun?« aus!)
    Schlafstörungen sind ebenso
wie Anomalien im Essverhalten
typische Begleitsymptome
von Energiemangel.
    In der Antike sah man sich im Schlaf von einem Gott umfangen, begleitet und beschützt, und wer Heilschlaf suchte, wählte dazu noch den Tempelschlaf an einem ausgewählt heilsamen Ort, der mittels Opfergaben, Düften und Gesängen mit besonderer Energie aufgeladen worden war.
    Heute holt man sich Drogen aus der pharmakologischen Apotheke oder Autosuggestionen aus der Hausapotheke für die Seele. Beides zählt zum Repertoire mittelalterlicher Hexenmeisterei, mit der man die echte Botschaft der Leib-Seele-Geist-Einheit »einschläfern« will: Um nur ja nicht die eigenen Grenzen zur Kenntnis nehmen und womöglich outen zu müssen, flüchtet man zu Aufputschmaßnahmen oder in den Krankenstand, statt zu überprüfen, ob die »Grenzen des Wachstums« – des menschlich möglichen Kraftzuwachses – nicht schon längst überschritten wurden und von wem dies ausgegangen ist – und sich dann zum Protest zu organisieren. Dort hinein gehört die letzte Kraft eingespeist – und nicht in die weitere Selbstausbeutung.
DAS VOLLE HEIL
    »Der seelisch gesunde Mensch ist ein Mensch, der aus seiner Liebe, seiner Vernunft und seinem Glauben heraus lebt, der sein eigenes Leben und das seiner Mitmenschen achtet«, erklärt Erich Fromm und präzisiert:»… allein sein zu können, und gleichzeitig mit den geliebten Menschen, mit jedem unserer Brüder auf Erden, mit allem Lebendigen eins sein zu können; der Stimme des Gewissens zu folgen, jener Stimme, die uns zu uns selber ruft, und trotzdem nicht uns selbst zu hassen, wenn
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