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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Autoren: Ursula K. LeGuin
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zu dem schlaffen Bündel, das er in der Hand hielt. Er ließ die kleinen, glanzlosen braunen Augen umherwandern. Mit den Jahren war er noch dicker geworden, und seine unbehaarte gelbe Haut glänzte in der Sonne.
    »Rutsch auf der Männerseite halb hinunter!« zischte Arha, und beide glitten so behende wie Eidechsen auf der anderen Seite der Mauer hinab, bis sie von der Innenseite nicht mehr sichtbar waren. Sie hörten Manans langsame Schritte näher kommen.
    »Kuckuck, Kartoffelkopf!« höhnte Arha leise, nicht viel lauter als der Wind, der durch das Gras strich.
    Der schwere Schritt kam zum Stillstand. »Hallo, ist da jemand?« hörte man eine unsichere Stimme. »Kleines, bist du es? Arha?«
    Alles blieb stumm.
    Manan ging weiter.
    »Kuckuck! Kartoffelkopf!«
    »Ha, Kartoffelbauch!« ahmte Penthe flüsternd nach und zog die Luft ein, um ein Kichern zu unterdrücken.
    »Ist jemand da?«
    Alles blieb stumm.
    »Ja, ja, ist schon gut«, seufzte der Eunuch und watschelte weiter. Als er hinter dem Hügel verschwunden war, kletterten die Mädchen wieder hinauf auf die Mauer. Penthes Gesicht war gerötet von der Anstrengung und vom Kichern, doch Arhas Augen loderten.
    »Der blöde alte Hammel, überallhin trottet er mir nach!«
    »Das muß er tun«, gab Penthe verständnisvoll zu bedenken. »Dazu ist er da; er muß für dich sorgen, das ist seine Arbeit.«
    »Diejenigen, denen ich diene, sorgen für mich. Ihnen stehe ich zu Diensten und sonst niemandem. Die alten Weiber und die halben Männer sollen mich in Ruhe lassen. Ich bin die Eine Priesterin!«
    Penthe starrte sie an. »Oh«, sagte sie kaum hörbar, »oh, ich weiß, daß du dies bist, Arha …«
    Penthe blieb lange sitzen, ohne zu reden, sie seufzte nur manchmal, ließ die rundlichen Beine baumeln und blickte über das weite farblose Land, das zu ihren Füßen lag und sich ganz allmählich in einem riesigen dunstigen Himmel verlor.
    »Weißt du, es wird nicht mehr lange dauern, und dann wirst du hier herrschen«, sagte sie endlich mit sanfter Stimme. »In zwei Jahren sind wir keine Kinder mehr. Dann sind wir vierzehn. Ich komme dann in den Tempel des Gottkönigs, und für mich wird sich wenig ändern. Du aber wirst dann erst richtige Hohepriesterin. Dann müssen dir selbst Kossil und Thar gehorchen.«
    Die Verzehrte erwiderte nichts. Ihr Gesicht war unbeweglich. Ihre Augen unter den dunklen Brauen fingen das Himmelslicht auf und glänzten hell.
    »Ich glaube, wir müssen zurückkehren«, sagte Penthe.
    »Nein.«
    »Aber die Webmeisterin sagt es vielleicht Thar, daß wir nicht da sind. Und bald wird es Zeit für die Neun Gesänge.«
    »Ich bleibe hier, und du bleibst auch hier.«
    »Dich bestrafen sie nicht, aber mich werden sie bestrafen«, sagte Penthe mit zaghafter Stimme. Arha gab keine Antwort. Penthe seufzte und blieb sitzen. Die Sonne versank im Dunst hoch über der Ebene. In der Ferne, auf dem weiten, leicht ansteigenden Land hörte man schwach das Geräusch von Schafglocken und das Blöken der Lämmer. Der Frühlingswind wehte in kurzen trockenen Böen und trug einen schwachen Duft mit sich.
    Die Neun Gesänge waren schon fast beendet, als die beiden Mädchen zurückkehrten. Mebbeth hatte sie auf der ›Männerseite‹ sitzen sehen und dies ihrer Oberin Kossil hinterbracht, der Hohenpriesterin des Gottkönigs.
    Kossil hatte einen schweren Gang, und ihre Gesichtszüge bewegten sich kaum. Auch jetzt verzog sich ihr Gesicht nicht, als sie mit den beiden Mädchen sprach und ihnen gebot, ihr zu folgen. Sie führte sie durch die steinernen Gänge des Großhauses, durch die Eingangstür hinaus und den Hügel zum Tempel von Atwah und Wuluah hinauf. Dort sprach sie mit Thar, der Hohenpriesterin des Tempels, die so dürr, groß und hager war wie der Beinknochen eines Hirsches.
    Kossil sagte zu Penthe: »Zieh dein Kleid aus!«
    Sie schlug das Mädchen mit einer Rute aus Schilfrohr. An einigen Stellen blutete es. Penthe ertrug die Strafe ohne Geschrei, nur Tränen rannen ihr übers Gesicht. Sie wurde ohne Abendessen in den Websaal zurückgesandt, und auch am anderen Tag bekam sie nichts zu essen. »Wenn du noch einmal über die Männermauer kletterst, wirst du viel Schlimmeres erleben, merk dir das, Penthe!« sagte Kossil. Ihre Stimme war gelassen und ausdruckslos. Penthe antwortete »Ja« und schlüpfte davon. Sie zuckte zusammen und verzog das Gesicht, wenn das grobgewebte Gewand ihre offenen Striemen berührte.
    Arha hatte neben Thar gestanden und zugesehen, wie
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