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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Penthe geschlagen wurde. Jetzt beobachtete sie, wie Kossil das Schilfrohr reinigte.
    Thar sprach zu ihr: »Es ziemt sich nicht, daß man dich mit anderen Mädchen herumrennen und -klettern sieht. Du bist Arha.«
    Sie stand blaß und trotzig da und gab keine Antwort.
    »Es ist besser, du tust nur das, was du tun mußt. Du bist Arha.«
    Einen Augenblick lang hob das Mädchen die Augen und blickte Thar und Kossil an, und in dem Blick lagen solch ein Haß und solch eine Wut, daß man davor erschrecken konnte. Doch die hagere Priesterin blieb davon unberührt, es bestärkte sie nur in ihrer Gewißheit. Sie neigte sich etwas nach vorn und flüsterte: »Du bist Arha. Nichts blieb zurück. Alles wurde verzehrt.«
    »Alles wurde verzehrt«, wiederholte das Mädchen, wie es die Worte täglich wiederholt hatte, jeden Tag, seit es sechs Jahre alt war.
    Thar neigte leicht den Kopf, und Kossil tat das gleiche, als sie die Rute weglegte. Das Mädchen verbeugte sich nicht, sondern drehte sich um und verließ den Raum.
    Nach dem Essen, das aus Kartoffeln und neuen Zwiebeln bestand und in dem langen, schmalen, dunklen Refektorium schweigend eingenommen wurde, nach dem Singen der Abendhymne und nachdem die Türen mit heiligen Worten geweiht worden waren und das Ritual des Unaussprechlichen gefeiert worden war, nahm die Arbeit für diesen Tag ein Ende. Jetzt durften die Mädchen in den Schlafsaal hinaufgehen und sich mit Würfel- oder Stabspielen vergnügen, solange das einzige Licht aus Binsenrohr brannte. Danach konnten sie miteinander von Bett zu Bett flüstern. Arha machte sich – wie jeden Abend – auf und ging über die Höfe und Hänge der Stätte zum Kleinhaus, wo sie allein schlief.
    Der Abendwind trug einen süßen Duft mit sich. Die Sterne des Frühlings waren so dicht gesät wie Margeriten auf einer Wiese. Aber das Mädchen konnte sich nicht mehr an Wiesen erinnern. Es blickte nicht auf.
    »Hoppla, Kleines!«
    »Manan«, sagte Arha gleichgültig.
    Der mächtige Schatten gesellte sich ihr zu, das Sternenlicht glänzte auf seiner Glatze.
    »Haben sie dich bestraft?«
    »Ich kann nicht bestraft werden.«
    »Nein … das stimmt …«
    »Sie können mich nicht bestrafen. Sie wagen es nicht.«
    Er stand da, mit seinen plumpen Händen, die an den Seiten herunterhingen, sehr groß und undeutlich. Sie roch wilde Zwiebeln und den verschwitzten, mit Salbei gemischten Geruch seines alten schwarzen Umhangs, der am Saum zerrissen und zu kurz für ihn war.
    »Sie können mich nicht berühren. Ich bin Arha!« rief sie mit schriller, heftiger Stimme und begann zu weinen.
    Die großen wartenden Hände hoben sich, und Manan zog sie an sich, hielt sie sachte und strich ihr über die geflochtenen Haare. »Schon gut, schon gut, kleiner Honigkuchen, kleines Mädchen …« Sie hörte seine heisere Stimme, die tief aus der Brust kam, und hängte sich an ihn. Ihre Tränen versiegten bald, aber sie klammerte sich an Manan, als könne sie nicht allein stehen.
    »Armes kleines Ding«, flüsterte er und hob sie hoch, trug sie zur Tür des Hauses, in dem sie allein schlief. Er stellte sie auf den Boden.
    »Ist es wieder besser, Kleines?«
    Sie nickte, wandte sich um und betrat das dunkle Haus.

Die Gefangenen
    KOSSIL KAM GEMESSENEN und schweren Schrittes den Gang des Kleinhauses herunter. Die massige große Gestalt füllte den Türrahmen, schrumpfte etwas, als sich die Priesterin verneigte und mit einem Knie den Boden berührte, und schwoll dann wieder zu ihrem vollen Umfang an, als sie sich aufrichtete.
    »Herrin!«
    »Was gibt es, Kossil?«
    »Es ist mir gestattet, bisher gewissen Pflichten nachzukommen, die in den Aufgabenkreis der Namenlosen fallen. Es wäre jetzt an der Zeit, daß meine Herrin diese Dinge, an die sie sich in diesem Leben noch nicht wieder erinnert hat, lernt, sieht und in die Hand nimmt, wenn es ihr genehm ist.«
    Arha saß in ihrem fensterlosen Zimmer, angeblich um zu meditieren, in Wirklichkeit aber tat sie nichts und dachte auch an fast nichts. Es dauerte eine Weile, bis sich der starre, hochmütige Ausdruck ihres Gesichtes änderte. Doch schließlich belebte er sich, obwohl sie sich bemühte, dies zu verbergen. Sie sagte, und ihre Stimme war lauernd: »Das Labyrinth?«
    »Das Labyrinth werden wir nicht betreten. Aber das untere Grab müssen wir durchqueren.«
    In Kossils Stimme lag Furcht, doch das konnte gespielt sein, um Arha Angst einzuflößen. Das Mädchen ließ sich Zeit mit dem Aufstehen, dann sagte es gleichgültig:
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