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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Autoren: Ursula K. LeGuin
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unterhalb davon errichtete Tempel des Gottkönigs. Er hatte ein großes Portal mit mächtigen weißen Säulen, deren Kapitelle bemalt waren; jede Säule war aus dem Stamm einer einzigen Zeder geschnitzt, die per Schiff von Hur-at-Hur hergebracht und von zwanzig Sklaven unter großen Anstrengungen über die ausgedorrte Ebene an die Stätte geschleppt worden waren. Ein Reisender, der sich von Osten der Stätte näherte, nahm erst das Golddach und die hellglänzenden Säulen wahr, bevor er weiter oben den ältesten Tempel seiner Rasse sah: das riesige niedrige Bauwerk, das die Thronhalle darstellte, deren Wände geflickt und zerbröckelt waren und deren Kuppel verfiel.
    Hinter diesem Gebäude und entlang dem Bergkamm zog sich eine wuchtige Steinmauer hin, die einst mit Mörtel gebaut und jetzt an vielen Stellen beschädigt war. Innerhalb des Halbkreises, den die Mauer beschrieb, befanden sich einige schwarze Steine, ungefähr sechs bis sieben Meter lang, die sich wie riesige Finger aus der Erde reckten. Wenn das Auge die Steine einmal wahrgenommen hatte, so wandte es sich ihnen unwillkürlich immer wieder zu. Daß sie nicht zufällig dort standen, sondern eine Bedeutung hatten, war offensichtlich. Doch was sie bedeuteten, wußte niemand mehr. Neun Steine waren es insgesamt. Einer stand kerzengerade, die anderen neigten sich etwas, zwei lagen auf der Erde. Sie waren mit grauen und orangefarbenen Flechten überzogen, und es sah aus, als wären sie mit Farbe bespritzt. Nur einer war frei davon, er war nackt und schwarz, und wenn man ihn anfaßte, spürte man, wie glatt er war. An den anderen konnte man unter den Flechten unbestimmte Reliefs entdecken oder mit den Fingern fühlen – unbekannte Figuren und Formen. Diese neun Steine waren die Gräber von Atuan. Es wird behauptet, daß sie schon standen, als der erste Mensch auf der Welt erschien und bevor die Erdsee erschaffen wurde. In der Dunkelheit waren sie aufgestellt worden, als die Länder aus der Tiefe des Meeres emporgehoben wurden. Sie waren älter als die Gottkönige von Kargad, älter als die Zwillingsgötter, älter als das Licht. Es waren die Gräber derjenigen, die herrschten, bevor die Welt der Menschen erschaffen wurde, derjenigen, die keinen Namen trugen, und wer ihnen diente, trug ebenfalls keinen Namen.
    Arha ging nicht oft dorthin. Außer ihr setzte niemand den Fuß auf den Boden, wo die Steine standen, dort auf dem Berg, innerhalb der Mauer, hinter der Thronhalle. Zweimal im Jahr, beim Vollmond, der der Frühlings- und Herbst-Tagundnachtgleiche am nächsten lag, wurde vor dem Thron ein Opfer dargebracht, und Arha trat mit einer Schüssel voll dampfendem Ziegenblut aus der Hintertür. Dieses mußte sie ausgießen, die Hälfte ans Fundament des aufrecht stehenden Steines, den Rest über einen der umgefallenen Steine, der halb im Boden vergraben lag und vom vergossenen Blut von Jahrhunderten befleckt war.
    Manchmal ging Arha ganz allein im frühen Morgenlicht hinauf zu den Steinen und versuchte herauszufinden, was die undeutlichen Erhöhungen und Vertiefungen der Skulpturen darstellten, die im Licht der fast waagrecht fallenden Strahlen der Morgensonne schärfer hervortraten. Manchmal aber saß sie auch nur da und schaute hinüber zu den Bergen im Westen und hinunter auf die Dächer und Mauern der Stätte, die sich zu ihren Füßen erstreckte, und sie beobachtete, wie sich allmählich alles um das Großhaus und die Hütten herum zu regen begann und wie die Schaf- und Ziegenherden ihren spärlichen Weiden beim Fluß zustrebten. Bei den Steinen gab es nichts zu tun. Sie kam nur hierher, weil allein sie hierherkommen durfte und weil sie hier für sich sein konnte. Es war im Grunde genommen ein abschreckender Ort. Selbst in der mittäglichen Hitze der Wüste war es kalt hier. Manchmal hörte sie den Wind schwach pfeifen, wenn er zwischen den beiden Steinen hindurchblies, die nebeneinanderstanden und sich aneinanderlehnten, als hätten sie sich ein Geheimnis zuzuflüstern. Aber es wurden keine Geheimnisse erzählt.
    Von der Gräbermauer zweigte eine weitere, niedrigere Mauer ab, die einen ungleichmäßigen weiten Halbkreis um den Hügel der Stätte beschrieb und sich dann nach Norden gegen den Fluß hin verlor. Diese Mauer diente offensichtlich weniger dem Schutz als der Trennung der Stätte in zwei Bereiche. Auf der einen Seite standen die Häuser der Priesterinnen und Eunuchen, auf der anderen befanden sich die Quartiere der Wächter und die Hütten der
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