Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
Erlaubnis betreten. Als sie noch klein war, gefiel es ihr, wenn Leute demütig anklopften und sie dann sagen konnte: »Treten Sie ein!« Und es ärgerte sie, daß die beiden Hohenpriesterinnen Kossil und Thar eintraten, ohne anzuklopfen, denn die sahen es als selbstverständlich an, daß sie ein Recht dazu hatten.
    So vergingen die Tage und die Jahre, und alle waren sich ähnlich. Die Mädchen der Gräberstätte hatten Unterricht, oder sie mußten sich in irgendeiner Geschicklichkeit üben. Spielen durften sie fast nie. Sie hatten auch keine Zeit dazu. Sie lernten die sakralen Lieder und Tänze, die Geschichte des Kargadreiches und die Mysterien des Gottes, dem sie geweiht waren: Das konnte der Gottkönig sein, der über Awabad herrschte, oder die Zwillingsbrüder Atwah und Wuluah. Arha allein lernte die Mysterien der Namenlosen, und nur ein Mensch konnte sie diese lehren: die Hohepriesterin Thar, die den Zwillingsgöttern diente. Täglich verbrachte sie eine Stunde mit ihr, manchmal dauerte es auch länger, aber den Rest des Tages war sie mit den anderen Mädchen beisammen und mußte arbeiten. Mit ihnen zusammen mußte sie lernen, Schafwolle zu spinnen und zu weben, Linsen, Buchweizen, grobgemahlen für Grütze und feingemahlen für ungesäuertes Brot, Zwiebeln und Kohl anzupflanzen, zu ernten und zuzubereiten, Ziegenkäse herzustellen, Honig zu sammeln und Äpfel zu verwerten.
    Das schönste und begehrenswerteste war die Erlaubnis, angeln gehen zu dürfen in dem trüben grünen Fluß, der eine halbe Meile nordöstlich der Stätte durch die Wüste floß. Dort den ganzen Tag in der Sonne zu sitzen, mit einem Apfel und einem Buchweizenkuchen, und dem Sonnenlicht im Schilf zuzuschauen und den langsam dahinfließenden grünen Fluß und die Wolkenschatten an den Bergen zu beobachten, wie sie sich langsam veränderten, war das höchste Vergnügen, das sie kannte. Aber wenn sie aufschrie vor Aufregung, wenn die Schnur sich spannte und sie einen flachen glitzernden Fisch aus dem Wasser schwang und ihn ans Ufer warf, damit er in der Luft ersticke, dann zischelte Mebbeth wie eine Natter: »Sei ruhig, du dumme Kröte!« Mebbeth, die im Tempel des Gottkönigs diente, war dunkelhaarig und dunkelhäutig und noch ziemlich jung, aber im Wesen war sie so hart wie Obsidian. Sie angelte mit Leidenschaft. Mit ihr mußte man sich gut stellen und nie einen Laut von sich geben, sonst wurde man nie mehr mit zum Angeln genommen, und man sah den Fluß nur noch im Sommer, wenn das Wasser der Brunnen so niedrig stand, daß man das Wasser aus dem Fluß schöpfen mußte. Das war eine mühselige Arbeit, dieses Wasserholen! Eine halbe Meile mußte man durch die weißglühende Hitze hinunter zum Fluß trotten, dort die beiden Eimer an der Tragstange füllen, und dann so schnell wie möglich wieder hinauf zur Stätte eilen. Die ersten hundert Schritte waren einfach, dann aber wurden die Eimer immer schwerer, und die Stange drückte und brannte wie ein glühender Stab auf den Schultern, und das heiße weiße Licht wurde von der kahlen Straße zurückgeworfen, und mit jedem Schritt wurde es mühseliger. Endlich, wenn man den kühlenden Schatten des Hofes hinter dem Großhaus erreicht hatte, wo sich der Gemüsegarten befand, konnte man die beiden Eimer in die Zisterne schütten, bis das Wasser aufspritzte, nur um sich dann wieder umzuwenden und alles noch einmal zu wiederholen – und noch einmal und noch einmal.
    Innerhalb der Stätte – es bedurfte keines anderen Namens, denn es war die älteste und heiligste aller Gräberstätten in den vier kargischen Ländern – wohnten ein paar hundert Menschen. Es gab einige Gebäude: drei Tempel, das Großhaus, das Kleinhaus, das Quartier für die Eunuchen und gleich außerhalb der Mauer die Hütten der Wächter und die zahlreichen Sklavenunterkünfte, die Lagerschuppen, die Pferche für die Schafe und Ziegen und die Scheunen. Von weitem, von den dürren Hügeln im Westen aus, auf denen nur Salbei, Büschel von Stachelgras, unscheinbares Unkraut und einige andere Kräuter wuchsen, sah es wie eine kleine Stadt aus. Selbst von den Ebenen im Osten aus konnte man, wenn man hinaufschaute, das Golddach des Tempels der Brüdergötter sehen, das unten am Berg funkelte und glänzte wie ein glitzerndes Körnchen im Felsgestein.
    Der Tempel selbst war ein fensterloser Würfel aus Stein, weiß verputzt, mit einer niedrigen Veranda und einer kleinen Tür. Eindrucksvoller und Hunderte von Jahren jünger war der etwas
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher