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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Nur manchmal, an den langen Juliabenden, wenn sie die Berge betrachtete, die sich so trocken und löwenfarben im Westen erhoben und nach dem Sonnenuntergang noch kurz aufglühten, dann erinnerte sie sich an ein Feuer, das einmal, lange war es her, in der gleichen Farbe in einem Herd gebrannt hatte. Und daran knüpfte sie die Erinnerung an Arme, die sie gehalten hatten, und das kam ihr seltsam vor, denn hier wurde sie fast nie berührt. Mit der Erinnerung kam der Duft frisch gewaschener Haare, die in Salbeiwasser gespült worden waren, langer blonder Haare, hell wie der Sonnenuntergang und glänzend wie das Feuerlicht. Das war alles, was ihr geblieben war.
    Natürlich kannte sie mehr als diese spärlichen Bilder, denn man hatte ihr die ganze Geschichte erzählt. Als sie sieben oder acht Jahre alt war und zum ersten Mal wissen wollte, wer diese Person, die sie ›Arha‹ nannten, nun wirklich war, ging sie zu dem Mann, der für sie sorgte, dem Wärter Manan, und sagte zu ihm: »Erzähl mir, wie man mich erwählt hatte, Manan!«
    »Ach, das weißt du doch, Kleines!«
    Er hatte recht, natürlich wußte sie es. Die große Priesterin Thar hatte es ihr so oft mit ihrer trockenen Stimme vorgesprochen, daß sie die Worte auswendig kannte, und sie begann es vorzutragen: »Ja, ich weiß. Nach dem Tode der Einen Priesterin der Gräber von Atuan wird das Zeremoniell der Beerdigung und der Reinigung innerhalb eines Monats abgehalten, dem Kalender des Mondes folgend. Danach begeben sich bestimmte Priesterinnen und Aufseher der Gräberstätte in die Wüste und ziehen in die Städte und Dörfer von Atuan, suchend und fragend. Sie forschen nach einem kleinen Mädchen, das in der gleichen Nacht geboren wurde, in der die Priesterin verschied. Haben sie ein Kind gefunden, so warten sie und beobachten es. Das Kind muß geistig und körperlich gesund sein, darf nicht Rachitis oder Pocken gehabt haben noch irgendeine mißliche Körperbildung aufweisen; es darf auch nicht blind sein. Wenn es fünf Jahre alt geworden ist und bis dahin keinen Schaden erlitten hat, dann weiß man, daß der Körper dieses Kindes wahrhaftig der neue Körper der Priesterin ist, die gestorben war. Die Existenz des Kindes wird dem Gottkönig zu Awabad zur Kenntnis gebracht, es wird hierhergeholt und ein Jahr lang unterrichtet. Und am Ende dieses Jahres wird es in die Thronhalle geführt, und sein Name wird von ihm genommen und denen zurückgegeben, die seine Meister sind, den Namenlosen; denn es ist wahrlich die Namenlose, die Priesterin, die ewig wiederkehrt.«
    Das war Wort für Wort Thars Bericht, und nie hatte sie es gewagt, weitere Fragen zu stellen. Die hagere Priesterin war nicht grausam, aber sie war kalt und lebte nach ehernen Gesetzen. Arha hatte Angst vor ihr. Aber vor Manan fürchtete sie sich nicht, ganz im Gegenteil, ihm konnte sie gebieten: »Jetzt erzähl mir, wie ich gewählt wurde!« Und dann wiederholte Manan die Geschichte, die er ihr schon so oft erzählt hatte.
    »Am dritten Tage nach dem Neumond sind wir von hier weggegangen und haben uns nach Osten und Westen gewandt. Die letzte Arha war nämlich am dritten Tag nach dem Neumond gestorben, also genau einen Monat früher. Zuerst gingen wir nach Tenakbah, das ist eine große Stadt, obgleich nicht größer als ein Floh im Vergleich zu einem Rind, wenn man sie mit Awabad vergleicht, wie diejenigen behaupten, die beide Städte kennen. Aber mir ist Tenakbah groß genug, es muß dort tausend Häuser geben! Von dort gingen wir nach Gar. Aber niemand in diesen Städten hatte ein kleines Mädchen, das vor einem Monat, am dritten Tag nach dem Neumond geboren war. Einige hatten Jungen, aber Jungen kommen nicht in Frage … Dann zogen wir in das Bergland nördlich von Gar, in die Städte und Dörfer, die dort liegen. Ich komme von dort, dort in den Bergen bin ich geboren. Es gibt dort Flüsse, und das Land ist grün, ganz anders als diese Wüste hier.« Immer wenn er an diese Stelle kam, lag in Manans heiserer Stimme ein seltsamer Unterton, und er machte eine Pause und fuhr fort: »Und dann suchten wir alle Eltern auf, die Säuglinge hatten, die im vergangenen Monat geboren wurden. Manche logen uns an. ›O ja, unser kleines Mädchen ist drei Tage nach dem Neumond auf die Welt gekommen!‹ Denn weißt du, arme Leute werden ihre kleinen Mädchen gern los. Andere wiederum, die in den einsamen Hütten zwischen den Bergen wohnten, waren so arm, daß sie die Tage nicht zählten und kaum wußten, in welchem
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