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Der Erbe der Nacht

Titel: Der Erbe der Nacht
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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die Hand aus und öffnete die Tür mit einem entschlossenen Ruck.
    Im nächsten Augenblick wünschte ich, es nicht getan zu haben, denn was ich sah, war weit schlimmer als der Alptraum, aus dem ich gerade erwacht war, und ließ mich für einen Moment wirklich an meinem Verstand zweifeln. Mein Großvater stand vor der monströsen Standuhr, die die ganze Südwand des Arbeitszimmers beherrschte, und hatte beide Hände in einer erstarrten, abwehrenden Geste halb vor das Gesicht erhoben. Die vier unterschiedlich großen Zifferblätter der Uhr schienen wie unter einem inneren Feuer zu glühen, und ihre Zeiger kreisten wie wild. Die Tür der mannshohen Uhr stand offen, und das unheimliche grüne Leuchten, das das ganze Zimmer erhellte, kam direkt aus ihrem Inneren. Wo Pendel und Gewicht sein sollten, war nichts mehr, nur dieses schreckliche, flackernde grüne Geisterlicht, in dem sich etwas bewegte, das ich nicht genau erkennen konnte.
    Sekundenlang stand ich wie angewurzelt da und starrte das unglaubliche Bild an, fassungslos und unfähig, mich zu rühren, ja, auch nur zu atmen, geschweige denn einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen oder irgend etwas anderes zu empfinden als Schrecken und lähmendes Entsetzen.
    Etwas berührte mein Bein. Ich fuhr zusammen, sah erschrocken an mir herab und erkannte Merlin, der mir auf seinen Samtpfoten lautlos nachgeschlichen war. Einen Augenblick lang stand er so reglos und starr da wie ich, dann sah ich, wie sich jedes einzelne Haar seines Fells sträubte, als stünde es unversehens unter Strom, sein Schweif auf doppelten Umfang anschwoll und sich kerzengerade aufrichtete und blitzartig achtzehn winzige, rasiermesserscharfe Miniaturdolche aus seinen Zehen klappten. Merlin fauchte, wie ich nie zuvor im Leben eine Katze habe fauchen hören, dann machte er auf der Stelle kehrt und raste wie der Blitz davon.
    Mein Großvater zuckte erschrocken zusammen, als er Merlins Kreischen hörte, und fuhr mit einer Behendigkeit herum, die für einen Mann seines Alters schlichtweg unvorstellbar war. Sein Gesicht verlor alle Farbe. Für den Bruchteil eines Augenblicks starrte er mich fassungslos und mit eindeutigem Entsetzen an, dann wirbelte er abermals herum, packte die Tür und warf sie so heftig ins Schloß, daß die ganze Uhr erzitterte. Das grüne Leuchten und das unheimliche Glühen der Zifferblätter erlosch, und gleichzeitig hörten die Zeiger auf zu rotieren. Die Uhr war jetzt wieder nichts anderes als das, was sie gewesen war, solange ich sie kannte: ein mindestens hundert Jahre altes Monstrum, das treu und brav die volle Stunde schlug.
    Aber ich wußte, was ich gesehen hatte. Und der Ausdruck auf dem Gesicht meines Großvaters überzeugte mich endgültig davon, daß es keine Einbildung gewesen war. Auch wenn ich es gerne gehabt hätte.
    »Was … was war das?« murmelte ich fassungslos.
    »Mein Gott, was ist hier passiert?«
    Mein Großvater antwortete nicht, sondern sah mich nur an.
    Er war bleich. Selbst jetzt, wo das unheimliche grüne Licht erloschen war und ich sein Gesicht wieder im normalen Schein der Deckenlampe sah, wirkte es totenblaß. Seine Hände zitterten.
    »Was ist passiert?« fragte ich noch einmal und löste mich endlich aus meiner Erstarrung. Ich machte zwei, drei Schritte auf meinen Großvater zu und deutete dabei auf die Uhr. »Was war das?«
    »Du … du bist wach?« sagte Großvater verwirrt. Er versuchte zu lächeln es mißlang kläglich , fuhr sich nervös mit der Hand über das Kinn und sah abwechselnd mich und die Uhr an.
    »Ich konnte nicht schlafen«, log ich. »Und ich dachte, ich hätte etwas gehört.« Heftig deutete ich auf die Uhr. »Was war das, Mac? Dieses Licht …« Ich wandte mich um, trat an die Uhr heran und wollte die Hand nach der Tür ausstrecken, aber mein Großvater rief mich erschrocken zurück.
    »Nicht, Robert!« sagte er, und in seiner Stimme schwang ein solches Entsetzen, daß ich mitten in der Bewegung innehielt und mich wieder zu ihm herumdrehte. »Rühr sie nicht an
    bitte«, sagte er noch einmal. Ich gehorchte. Und ich spürte fast so etwas wie Erleichterung, als ich von der Uhr zurücktrat.
    »Was ist hier passiert?« fragte ich zum drittenmal.

    Wieder sah mein Großvater mich lange Zeit schweigend an, aber diesmal war in seinem Blick eher etwas wie Trauer, nicht mehr der maßlose Schrecken, den er im allerersten Moment bei meinem Anblick empfunden hatte. Dann wandte er sich ab, schlurfte zum Schreibtisch und ließ sich schwer auf den
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