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Der Engländer

Der Engländer

Titel: Der Engländer
Autoren: Daniel Silva
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hineingehen. Auf dem Tisch in der Eingangshalle liegt angeblich ein Brief für dich, aus dem du erfä hrst, wo das Gemälde zu finden ist und wo du untergebracht sein wirst.«
    »Ziemlich unorthodox, findest du nicht auch?«
    »Du solltest dich glücklich schätzen. Anscheinend bist du für ein paar Tage in der Villa allein und kannst arbeiten, ohne daß dir jemand über die Schulter sieht.«
    »Wahrscheinlich hast du recht.«
    »Soll ich dir die Sicherheitscodes diktieren? Hast du zufällig Papier und Bleistift? Sie sind ziemlich lang.«
    »Sag mir einfach die Zahlen, Julian. Hier schüttet es, und ich bin schon klatschnaß.«
    »Ach ja, du und deine kleinen Salontricks. In der Galerie hatte ich mal ein Mädchen mit demselben phantastischen Zahlengedächtnis.«
    Isherwood ratterte zwei achtstellige Zahlen herunter und legte auf. Gabriel trat wieder ans Tor und tippte die erste Zahl auf dem Zahlenfeld neben der Sprechanlage ein. Als der elektrische Offner summte, stieß er den Torflügel auf und trat ein. An der Haustür wiederholte er diesen Vorgang und stand wenige Augenblicke später in der düsteren Eingangshalle und tastete nach dem Lichtschalter.
    Der Briefumschlag lag in einer großen Glasschale auf einem reichgeschnitzten antiken Tisch am Fuß der Treppe. Er war an Signor Delvecchio adressiert - unter diesem Namen arbeitete Gabriel als Restaurator. Er griff nach dem Umschlag und riß ihn mit dem Zeigefinger auf. Glattes Papier, schwere Qualität, kein

    Briefkopf, taubengrau. Handgeschrieben, sorgfältige, präzise Schrift, keine Unterschrift. Er hob den Bogen an die Nase. Kein Duft.
    Gabriel begann zu lesen. Das Gemälde hing im Salon, ein Raffael, das Porträt eines jungen Mannes. Für ihn war ein Zimmer im Grandhotel Dolder reserviert, das ungefähr eineinhalb Kilometer von hier auf der anderen Seite des Zürichbergs lag. Essen und Getränke waren im Kühlschrank.
    Der Besitzer würde morgen nach Zürich zurückkehren und es wirklich sehr begrüßen, wenn Signor Delvecchio sich gleich an die Arbeit machte.
    Gabriel steckte den Brief ein. Also ein Raffael. Der würde sein zweiter sein. Vor fünf Jahren hatte er ein kleines Altarbild, eine Madonna mit Kind nach Leonardo da Vincis berühmter Komposition, restauriert. Jetzt spürte er ein Kribbeln, das sich durch seine Fingerspitzen ausbreitete. Dieser Auftrag war eine wundervolle Chance. Er war froh, daß er ihn trotz der unorthodoxen Vereinbarungen übernommen hatte.
    Durch einen kurzen Korridor gelangte er in einen großen Salon. Der Raum war dunkel, unbeleuchtet, die schweren Vorhänge waren zugezogen. Trotz des Dunkels hatte er den Eindruck, die Einrichtung sei mitteleuropäischaristokratisch überladen.
    Er trat einige Schritte in den Raum hinein. Der Teppich unter seinen Füßen war feucht. In der Luft lag ein Geruch von Salz und Rost. Diesen Geruch kannte Gabriel. Er bückte sich, berührte den Teppich und hob den Finger an die Augen.
    Er stand in Blut.
    Der Orientteppich war verblaßt und sehr alt - genau wie der Tote, der in seiner Mitte ausgestreckt lag. Er lag auf dem Bauch und schien mit seiner rechten Hand noch im Tod nach etwas greifen zu wollen. Er trug einen an den Ellbogen abgewetzten blauen Blazer mit Seitenschlitzen und eine graue Flanellhose.
    Dazu braune Wildlederschuhe. Absatz und Sohle eines Schuhs, des rechten, waren zwei Zentimeter dicker. Ein Hosenbein war etwas hochgerutscht. Die Haut war erschreckend weiß wie ein freiliegender Knochen. Die Socken paßten nicht zusammen.
    Gabriel ging mit der Gelassenheit eines Mannes, für den der Tod nichts Erschreckendes an sich hat, in die Hocke. Der Tote war ein winzig kleiner Mann, nur wenig über eins fünfzig groß, nicht größer. Sein Kopf lag so zur Seite gedreht auf dem Teppich, daß die linke Gesichtshälfte zu sehen war. Unter dem vielen Blut ahnte Gabriel ein energisches Kinn und markante Wangenknochen. Das Haar war dicht und schneeweiß. Er war offenbar mit einem einzigen Schuß getötet worden; das Geschoß war durchs linke Auge eingedrungen und am Hinterkopf ausgetreten. Die Austrittswunde ließ auf eine ziemlich großkalibrige Handfeuerwaffe schließen. Gabriel blickte auf und stellte fest, daß die Kugel den Spiegel über dem großen offenen Marmorkamin zertrümmert hatte. Er vermutete, daß der Alte seit einigen Stunden tot war.
    Eigentlich hätte er die Polizei anrufen müssen, aber er versuchte, sich die Situation aus ihrem Blickwinkel vorzustellen.
    Ein Ausländer in einer
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