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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher
Autoren: Stefan Brijs
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Doktor Hoppe unterbrach ihn auf der Stelle.
    »Warum ist Jesus am Kreuz gestorben?«, fragte er.
    Pastor Kaisergruber war kurz irritiert, doch dann bemerkte er, dass der Blick des Doktors auf dem silbernen Kreuz ruhte, das er sich immer ans Revers heftete. Zunächst fand er die Frage sehr seltsam, besonders aus dem Munde des Doktors, aber dann überlegte er, dass dieser angesichts des nahenden Todes seiner Söhne vielleicht doch noch Halt im Glauben suchte.
    Er antwortete genau wie sonst auch: »Um uns von unseren Sünden zu erlösen. Er hat sich für die Menschen geopfert.«
    »Aber hat er seinen Tod denn selbst gewählt?«
    Der Priester hob die Augenbrauen. Er war sofort wieder auf der Hut. Kurz ging ihm wieder der Tod von Victors Vater durch den Kopf. Der Doktor wollte ihn wahrscheinlich dazu bringen, dass er den Akt des Selbstmords im Nachhinein guthieß.
    »Nein, Jesus wurde verurteilt. Zwar zu Unrecht, aber er hat sich nicht gewehrt. Er hat seine Strafe duldsam angenommen. Um zu zeigen, dass er keinen Groll in seinem Herzen hegte. Dass er einzig und allein gute Absichten hatte.«
    Er wollte das Gespräch irgendwie zu einem Abschluss bringen, aber der Doktor drang weiter in ihn, den Blick unverwandt auf das Kreuz gerichtet.
    »Aber warum ist er verurteilt worden?«
    »Man hat ihn nicht verstanden. Er wurde falsch verstanden. Die Menschen glaubten ihm nicht.«
    Der Doktor nickte. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und presste die Hand auf seine Seite.
    Der Priester nutzte die Gesprächspause, um das Thema zu wechseln.
    »Aber wie geht es denn …«
    »Und warum am Kreuz?«, unterbrach der Doktor ihn erneut abrupt. »Warum musste er am Kreuz sterben?«
    Der Priester lehnte sich nun ebenfalls zurück und seufzte.
    »Warum am Kreuz?«, wiederholte er die Worte des Doktors. »Weil das die Art und Weise war, wie zu jener Zeit Missetäter exekutiert wurden. Darum.«
    »Das würde heute nicht mehr geschehen.«
    »Nein, Gott sei Dank nicht.«
    Kurz hob der Doktor den Blick und sah ihn an.
    »Heute käme er ins Gefängnis«, fuhr der Priester fort, dem Blick des anderen ausweichend. »Oder er würde bei einem gerechten Prozess freigesprochen.«
    »Und dann wäre er nicht gestorben.«
    »Nein, wohl kaum.«
    »Und dann hätte er uns auch nicht von unseren Sünden erlösen können.«
    »So ungefähr«, nickte der Priester, in der Hoffnung, dass das Thema damit abgeschlossen wäre.
    »Und dass Jesus auferstanden ist«, fragte Doktor Hoppe nun, »dass er von den Toten zurückgekehrt ist, das tat er doch auch für die Menschen, oder?«
    Er ist wahrhaftig ein Suchender, dachte der Priester. Vielleicht habe ich mich in ihm getäuscht. Vielleicht ist er schließlich doch zur Einkehr gekommen.
    »Damit hat Jesus zu erkennen gegeben, dass er zu jeder Zeit für alle Menschen da sein wird«, erklärte er. »Er steht über Leben und Tod.«
    Zunehmend kam er sich vor, als müsse er jemanden in den christlichen Glauben einweihen, obwohl Victor doch jahrelang die Schule der Brüder in Eupen besucht hatte. Wahrscheinlich waren dort alle Unterrichtsstunden und Gebete von ihm abgeprallt wie Speere von einem Schild. Oder vielleicht hatte er dort einen Abscheu vor dem Glauben entwickelt, weil er noch nicht empfänglich dafür gewesen war. Noch nicht reif dafür.
    »Jetzt habe ich es verstanden«, sagte der Doktor schließlich, ganz wie ein Schüler am Ende des Unterrichts.
    »Da bin ich froh«, sagte Pastor Kaisergruber, und das meinte er auch tatsächlich. Schnell sprach er weiter, um neuen Fragen des Doktors zuvorzukommen.
    »Wie geht es denn nun den Kindern?«
    »Gut«, antwortete der Doktor knapp.
    »Also ist alles wieder …«
    Doktor Hoppe nickte. Der Priester war erleichtert.
    »Dann brauche ich ihnen also keine Letzte Ölung zu geben? Deshalb bin ich nämlich eigentlich gekommen.« Er tippte auf die Flasche in seiner Jacketttasche.
    »Nein, bestimmt nicht«, sagte der Doktor.
    »Das sind ja gute Neuigkeiten«, sagte Pastor Kaisergruber und richtete sich bereits auf, um sich zu verabschieden. »Das sind wahrhaftig gute Neuigkeiten. Dann wissen wir ja, wofür wie Jesus am Sonntag zu danken haben. Bei der Wallfahrt nach La Chapelle, wenn …«
    Der Priester führte den Satz nicht zu Ende. Zu spät war ihm wieder eingefallen, dass der Ortsname bei Victor möglicherweise schlechte Erinnerungen hervorrufen könnte. Aber der Doktor kümmerte sich nicht darum. Wahrscheinlich erinnerte er sich kaum noch an seine Zeit im Kloster der
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