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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman
Autoren: Susanne Betz
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Dotterblumen und Bachnelken auf den Rücken gelegt, ein Buch zwischen sich und die Sonne gehalten und gelesen. Egal ob er Heu wendete oder Kartoffeln klaubte, immer hatte er ihre Umrisse vor Augen. Ihr braunes Haar flatterte wie die Fahne einer Piratenmacht auf offener See, vor der man sich in Sicherheit bringen musste, zu der er aber am liebsten lieber heute als morgen übergelaufen wäre.
    Manchmal hatte er über eine Stunde im Gebüsch gekauert, um sie zu beobachten. Ameisen krabbelten seine Beine hoch und bissen ihn, sein Nacken wurde steif, aber er bewegte sich nicht, weil dieser Schmerz schöner war als alles, was er bislang in seinem Leben erlebt hatte. Trotz aller Reglosigkeit knackten immer wieder Zweige und trieben ihm Hitzewallungen der Angst und Scham in den Kopf. Seine Mundhöhle fühlte sich filzig an und seine Zunge sandig. Uri kam sich schmutzig wie ein hechelnder Hund vor. Als das Fräulein plötzlich von ihrem Lager aufsprang und mit dem Buch unterm Arm und Grashalmen im Haar fortlief, war er regelrecht erleichtert und befreit. Eine Minute später aber tat ihm sein Herz schon wieder weh, weil er nicht wusste, ob und wann er sie wiedersehen würde. Später schimpfte ihn sein Bauer, weil er nicht erklären konnte, was er die ganze Zeit gemacht hatte. Schlimmer aber war, dass sich Uri seitdem auch noch vor seinen ausufernden Gedanken an das Fräulein fürchtete. Oder noch mehr vor den sündigen Bildern in seinem Kopf, in denen er sich ausmalte, wie er sich eines Tages neben das Fräulein ins Gras legen würde.
    Nicht nur der gelbe Hund hatte sich gewundert, als er ins Haus geschafft wurde. Auch Sarah horchte erstaunt auf und schaute ihre Mutter fragend an. Bärlis Krallen klirrten alarmierend in der Stille. Dumpf folgten ihm die Schritte und ein paar brummende Worte des Vaters. Johanna Hochstettler ging jedoch nicht auf ihre Tochter ein, sondern drehte ihren kleinen Finger nur tief ins rechte Ohr, strich das Schmalz glättend über den Faden und stichelte weiter. Vor den beiden spannte sich ein großes Tuch aus bestem Leinen im Holzrahmen. Im Sommer erst war der Stoff mit Waid taubenblau eingefärbt worden. Darunter lag eine Schicht aus roher, ungekämmter Wolle und darunter wiederum eine aus ungefärbtem Flachs. Jetzt ging es darum, die drei unterschiedlichen Materialien an den Rändern so exakt zusammenzunähen, dass keine Falten geworfen wurden, dass nichts klumpte oder spannte.
    Johanna Hochstettler wusste natürlich sehr wohl, warum Bärli weggesperrt worden war, warum ihr Mann so früh vom Pflügen zurückgekommen und der Tag überhaupt aus seinem Takt geraten war. Wie Uri sorgte auch sie sich insgeheim, und die Unruhe huschte in ihrem Inneren herum wie ein Wurf Mäuse im Dunklen der Scheune. Darum hatte sie ihre Tochter auch angewiesen, mit dem Nähen der großen Steppdecke zu beginnen, denn erfahrungsgemäß ließen sich mit dieser Arbeit Ängste nicht unbedingt einfangen, doch zumindest bändigen. Sarah sollte die Decke bekommen, wenn sie heiratete, und immerhin war das Mädchen schon neunzehn. Johanna senkte den Kopf, und ihre rechte Hand, die die Nadel hielt, drehte und wand sich in gleichförmigen, aber schnellen Bewegungen. Die Stiche sollten fein und gleichmäßig sein, einer wie der andere, so dicht, wie die Schuppen sich um die Rücken der Forellen legten, die sie gestern für ihre Leute gebraten hatte.
    Jetzt köchelten im größten Kessel über dem Feuer Suppenfleisch und Rüben. Reichlich Dinkelbrot hatte sie mit den Mägden schon vor drei Tagen gebacken. Krüge mit Most waren aus den Tiefen des Kellers hochgeschleppt und auf der obersten Stufe bereitgestellt worden. Stundenlang hatte sie Weißkraut gehobelt und eingekocht. Alle Vorbereitungen, um die Gemeinde auf dem Muckentalerhof nach dem Gottesdienst anständig bewirten zu können, waren erledigt. Kuchen und Käseleiber würden wie immer die Frauen von den anderen Höfen mitbringen.
    Johanna warf ihrer Tochter einen prüfenden Blick zu. Manchmal träumte das Mädchen vor sich hin und nähte nicht akkurat genug. Sie spürte, wie in ihrem Nacken Schweißtropfen ineinanderliefen. Die Luft im Raum war stickig. Ein Fenster zu öffnen, wagte sie nicht, das hätte Samuel vielleicht als Neugierde ausgelegt. Nichts sollte heute auffällig sein, kein herumstreunender Tagelöhner etwas sehen oder hören. Ihre Finger schwitzten, die Nadel rutschte. Sollte sie Magdalena vom Münsterhof morgen schon sagen, dass das, was sie seit Wochen
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