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Der Elefanten-Tempel

Der Elefanten-Tempel

Titel: Der Elefanten-Tempel
Autoren: Ueberreuter
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Lebensfreude. Wie viele Menschen wohl daran gearbeitet hatten, diese Millionen von pastellfarbenen Porzellankacheln anzufertigen und festzukleben?
    »Schau mal, manche Tempel werden bewacht«,sagte Sofia und deutete auf mannshohe, bunt kostümierte Dämonenstatuen mit Fratzengesichtern.
    »Die sollen bestimmt böse Geister fernhalten«, meinte Ricarda und gähnte. Was nicht an den Dämonen lag, sondern am schrecklich langen Flug. Zum Glück nahmen es ihr die Dämonen nicht übel, dass sie angegähnt wurden, oder ließen es sich zumindest nicht anmerken.
    »Ich glaube eher, die sollen schamlose Touristinnen mit Shorts verjagen.« Sofia grinste. Obwohl es ganz schön heiß war, trugen sie lange Hosen – sonst wären sie nicht eingelassen worden.
    Sie teilten sich eine Limo und ruhten sich an einem Teich aus, in dem Lotusblüten die Oberfläche bedeckten. Die rosa-weißen Knospen waren geformt wie Regentropfen und größer als ein Hühnerei. Neugierig beobachtete Ricarda, wie zwei Mönche in orangefarbenen Roben und Sandalen über das Gelände gingen. Ernst und würdig sahen sie aus mit ihren kahl geschorenen Köpfen …
    Der Nachtzug nach Chiang Mai ging erst am Abend, ihr Gepäck hatten sie schon zum Bahnhof gebracht und dort deponiert. Am liebsten hätte sich Ricarda bis zur Abfahrt auf irgendeine Parkbank gelegt und die Augen geschlossen. Doch erstens trug die Bank, die sie sich ausgeguckt hatte, bei näherem Hinsehen ein kleines Schild mit dem Hinweis »For Monks only – Nur für Mönche«, und zweitens kam eine solche Freizeitplanung für Sofia nicht infrage.
    »Vergiss es, wir gehen jetzt noch einen Cocktail trinken«, sagte sie.
    »Einen Cocktail?« Ricarda dachte kurz darüber nach, was ihr Vater dazu sagen würde, wenn sie jetzt gleich ein eisgekühltes alkoholisches Getränk schlürfte. Nicht viel, was druckreif wäre. Aber praktischerweise befand sich ihr Vater gerade mehrere tausend Kilometer entfernt. Ricarda lächelte selig. »Okay.«
    »Und wehe, du überlegst es dir anders und bestellst mal wieder Johannisbeerschorle.«
    »Gibt’s doch hier eh nicht.«
    Kurz darauf stießen sie in einem Restaurant an: Ricarda mit einer riesigen, mit Ananas-Stücken und lila Blüte verzierten Piña Colada, Sofia mit einem Mai Tai aus Rum, Mandelsirup, Zitronen- und Limettensaft. Ricarda probierte – hm, lecker. So einen würde sie sich auch noch bestellen.
    Sie lehnte sich in ihrem Rattanstuhl zurück, genoss den kühlen Luftzug der Deckenventilatoren und fühlte sich so unbeschwert, so glücklich wie lange nicht. Wie ungewohnt, ohne ihre Familie in einem Restaurant zu sitzen. Deutschland? Miefiges Spießerland! Wie hatte sie es nur so lange dort ausgehalten? Vielleicht sollte sie auswandern. Sie würde Buddhistin werden und in einen Tempel eintreten. Ging das überhaupt? Bisher hatte sie keine einzige Frau im orangefarbenen Gewand gesehen, nur Männer.
    Ricarda blinzelte. Sie hatte zu viel getrunken. Ja, die zwei Cocktails waren eindeutig übertriebengewesen. Schließlich konnte es nicht sein, dass da vorne ein Elefantenrüssel durch die jetzt offen stehende gläserne Eingangstür mitten ins Restaurant hineinragte. Aber trotzdem, es sah einem Elefantenrüssel wirklich täuschend ähnlich: lang, grau, beweglich wie eine Schlange.
    Ricarda kniff die Augen zusammen und schaute noch mal ganz genau hin.
    Es sah immer noch genauso aus. Gab es in Thailand eigentlich Riesenschlangen?
    Sofia saß mit dem Rücken zur Tür. In Zeitlupe beugte sich Ricarda über den Tisch und flüsterte ihr zu: »Dreh dich mal vorsichtig um und sag mir, was du siehst.«
    Sofia drehte sich um – und schrie auf. »O Mann, ich glaub’s nicht! Der Mann da hat einen Elefanten dabei. Aber sieht so aus, als ob das Vieh nicht durch die Tür passt.«
    Sie ließen ihre Drinks im Stich und drängten sich durch zum Ausgang. Ein paar andere Touristen scharten sich schon um den ungewöhnlichen Besucher. Andächtig blieb Sofia ein paar Schritte von dem Elefanten entfernt stehen. Es war schon fast dunkel draußen und nur das kühle Licht der Straßenlaternen beschien den massigen Körper des Tiers. Es trug seinen eigenen Proviant mit sich herum, auf seinem Rücken waren zwei Leinensäcke festgebunden, aus denen Bananenstauden und Pflanzenstängel – wahrscheinlich Zuckerrohrstücke – hervorragten. Bedächtigfächelte der Elefant mit den großen Ohren, streckte den Rüssel aus und nahm einer älteren Frau eine Banane ab. »Schau mal, jetzt stopft er sich
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