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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman
Autoren: Uwe Tellkamp
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wenig entzaubern, aber nach einiger Zeit kippte die Situation, und er begann mich zu prüfen. Er hatte ausgezeichnete, wirklich ganz ausgezeichnete Kenntnisse der Utopien, besonders von Platon und Morus. Über dessen Utopia hat er ja dann auch seine Dissertation geschrieben, die ich betreut habe und die durch Professor Hertwigs Vermittlung bei Brill in Hollandveröffentlicht worden ist. Ganz und gar außergewöhnlich für einen Anfänger, aber durch diese Arbeit gerechtfertigt. Sie lag weit über dem Niveau üblicher Dissertationen. Er war immer sehr zurückhaltend bei Diskussionen, aber wenn er etwas sagte, hatte es Hand und Fuß, war originell, verriet eigenständiges Denken, kurz: den besonderen Kopf. Ich will nicht verschweigen, daß es Stimmen an der Fakultät gab, die ihm pathologischen Ehrgeiz unterstellten, aber Neid spielt überall eine Rolle, und wer es zu etwas bringen will, muß damit fertig werden. Herr Ritter war einer der außergewöhnlichsten Assistenten, die wir je hatten, und sein Ausscheiden aus der Fakultät haben wir sehr bedauert. Auch Professor Hertwig war nach einiger Zeit der Meinung, zu hart gehandelt zu haben. Er hat alle ihm bekannten Kollegen angerufen, um für Herrn Ritter etwas tun zu können. Aber Sie werden die Lage der Geisteswissenschaften aus den Medien kennen. Herrn Ritters Assistentenstelle war inzwischen natürlich anderweitig vergeben. Hertwig hat aus dem Drittmitteltopf Geld an den Brill-Verlag überwiesen und gebeten, das als Tantiemen für verkaufte Bücher auszuweisen. Herrn Ritters Gesicht am Tag, als er die Abrechnung für seinen philosophischen Bestseller bekam, hätte ich übrigens gern gesehen. Er sollte von den Hintergründen nichts erfahren – ebensowenig davon, wer ihm Klienten in die Praxis schickte.
    – oder wieviel Geld ein angehender Rentner im Monat bei einer angesparten Summe X und einem Zins Y in den nächsten zehn Jahren verbrauchen kann, und dann müssen Sie noch den Kaufkraftverlust berücksichtigen, und dann sitzen die vor Ihnen, Ossis, und Sie befehlen: Schreiben Sie sich auf. Ich glaube an mich. Ich glaube an mich. Ich glaube an mich. Und deshalb glaubt mein Kunde an mich[ PATRICK G. {...}] als ich mich umdrehte, sah ich, daß Wiggo den Saal verließ. Der Kerl tupfte sich das Gesicht ab, völlig verdattert. Vor uns stieg der silberne Zeppelin. Der Meister gab seinen Assistenten ein Zeichen, worauf ein Feuerwerk abbrannte und in sprühenden Lettern INSTALLATION DER GELDMASCHINE in den Abendhimmel zwischen den Bankentürmen schrieb, jetzt zu rockigen Klängen von Altvater Springsteen, der von einer elektroverstärkten Streichergruppe vor den LKWs unterstützt wurde. Die Violinen waren durchsichtig, ebenso die Bögen. Der Meister drückte auf ein paar Knöpfe, die Bögen leuchteten auf, Applaus, wie er das wohl machte, wahrscheinlich mit Lumineszenzfarbstoff oder Glasfaserkabeln; eine Kompanie glühender Sägen, die in die Dunkelheit stachen
    – also: Was würdest du ihm raten?
    [ JOST F. {...}] Wiggo lief an uns vorbei aus dem Saal, totenbleich. Wir wollten ihn aufhalten, fragen, was los sei. Verschwindet, laßt mich allein, fuhr er uns draußen an. Dorothea zog mich am Arm, nickte mir zu. Wir gingen nach drinnen zurück, wo man das Licht gedämpft hatte, um die Illuminationen dieses Performancekünstlers besser sehen zu können. Die Swingkapelle spielte. Der Sehr Hohe Politiker war aufgestanden und hatte Mauritz’ Schwester zum Tanz aufgefordert. Sie tanzten, der Politiker machte eine gute Figur dabei, aber plötzlich brach Mauritz’ Schwester ab, wischte sich hastig über die Wange, hob abwehrend die Hände und rannte, ohne nach links und rechts zu sehen, aus dem Saal
    – ich würde ihm raten, am Abbau seiner Eitelkeit zu arbeiten. Denn was ist es anderes als Eitelkeit, andere Menschen partout so haben zu wollen wie sich selbst? Was ist esanderes als Eitelkeit, Liebe davon abhängig zu machen, ob der andere gewissen Erwartungen genügt, die man an ihn stellt? Solange der Sohn den Erwartungen entspricht, ist er ein guter Junge, wenn er abweicht, ist er ein Schwarzes Schaf, und was man davon zu halten hat, weiß man schon; er gehört verdammt, ausgestoßen und beleidigt. Einer, an dem man sich wundreibt, weil er nicht konform ist, weil er nicht das tut, was alle tun und was allgemein akzeptiert wird, und den man deshalb nicht in Ruhe lassen kann. Ein Fuchs, der im Tellereisen gefangen wird und seinen Jäger in die Hand beißt – und dafür bestraft
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