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Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel
Autoren: Thomas Metzinger
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Region in Ihrem neuronalen Zustandsraum beschrieben werden kann. Dieser Zustandsraum selbst mag durchaus Millionen von Dimensionen besitzen – trotzdem hat die physikalische Wirklichkeit, durch die Sie sich mit seiner Hilfe bewegen, eine unvorstellbar höhere Anzahl von Dimensionen.
    Die Schattenmetapher erinnert uns natürlich an das siebte Buch in Platons Der Staat . In Platons wunderschöner Parabel sind die Gefangenen in der Höhle an Schenkeln und Nacken gefesselt. Sie können nur geradeaus schauen, und ihre Köpfe sind seit der Geburt in einer festen Position angekettet gewesen. Alles, was sie jemals von sich selbst und den anderen Gefangenen gesehen haben, sind die Schatten, die durch das Feuer, das hinter ihnen brennt, auf die gegenüberliegende Höhlenwand geworfen werden. Sie glauben, dass die Schatten reale Gegenstände seien. Dasselbe gilt für die Schatten, die von den Gegenständen geworfen werden, die oberhalb der Mauer hinter ihren Köpfen entlanggetragen werden. Sind wir selbst vielleicht wie die Gefangenen, weil die Gegenstände einer unbekannten Außenwelt einen Schatten auf die Wand vor uns werfen? Sind wir am Ende selbst nur Schatten? Tatsächlich hat sich die philosophische Version unserer aktuellen Grundeinstellung zur bewusst erlebten Wirklichkeit aus dem platonischen Mythos heraus entwickelt – mitdem kleinen Unterschied, dass unsere heutige Version weder die Realität der materiellen Welt leugnet noch die Existenz ewiger Formen annimmt, die die eigentlichen Gegenstände darstellen, welche durch die Schatten auf der Wand von Platons Höhle abgebildet werden. Was wir allerdings annehmen, ist, dass die Bilder, die im Ego-Tunnel erscheinen, dynamische Projektionen von etwas wesentlich Größerem und Reichhaltigerem sind.
    Was aber ist die Höhle, und was sind die Schatten? Phänomenale Schatten sind niedrigdimensionale Projektionen innerhalb des zentralen Nervensystems eines biologischen Organismus. Nehmen wir einmal an, dass das Buch, das Sie gerade in der Hand halten, so wie es von Ihnen jetzt genau in diesem Moment erlebt wird, ein dynamischer, niedrigdimensionaler Schatten des tatsächlichen physikalischen Gegenstands in Ihrer tatsächlich physikalischen Hand ist, ein tanzendes Muster in Ihrem zentralen Nervensystem. Dann können wir die folgende Frage stellen: Was ist das Feuer, das die Projektion der flackernden Schatten im Bewusstsein verursacht, die sozusagen als Aktivierungsmuster auf der Wand Ihrer neuronalen Höhle tanzen? Das Feuer ist die neuronale Dynamik. Das Feuer ist der unaufhörliche, sich selbst regulierende Fluss der neuronalen Informationsverarbeitung, welcher auf der Suche nach einem stabilen Gleichgewicht ist und dabei ständig durch Sinneswahrnehmungen und kognitive Vorgänge gestört, geformt und immer wieder von neuem aufgewühlt wird. Die Wand der Höhle ist nämlich keine zweidimensionale Oberfläche, sondern der hochdimensionale phänomenale Zustandsraum der menschlichen Technicolor-Phänomenologie. 6 Bewusste Erlebnisse sind komplette mentale Modelle in dem repräsentationalen Raum, der sich durch das gigantische neuronale Netzwerk in unseren Köpfen öffnet – und weil dieser Raum durch eine Person erzeugt wird, die ein Gedächtnis besitzt und sich in der Zeit vorwärtsbewegt, ist er gleichzeitig ein Tunnel. Die Kernfrage ist jetzt jedoch die folgende: Wenn so etwas wirklich die ganze Zeit in uns selbst geschieht, warum sind wir uns dieser Tatsache niemals bewusst?
    Antti Revonsuo spielte auf das faszinierende Phänomen deraußerkörperlichen Erfahrungen an, als er das bewusste Erleben mit einer anhaltenden und anstrengungslosen außergehirnlichen Erfahrung verglich. 7 Genau wie ich es getan habe, benutzt er das Modell einer Weltsimulation, um zu erklären, in welchem Sinn das Gefühl der Anwesenheit und Gegenwärtigkeit, dessen Sie sich jetzt gerade erfreuen, nur eine innere, subjektive Art von Anwesenheit und Gegenwärtigkeit ist. Phänomenales In-der-Welt-Sein. Erscheinung . Die Grundidee besagt, dass der Inhalt des Bewusstseins der Inhalt einer simulierten Wirklichkeit in unserem Gehirn ist und dass das Gefühl des Daseins selbst ein Teil dieser Simulation ist. Unser bewusstes Erleben der Welt ist auf systematische Weise externalisiert, weil das Gehirn ständig die Erfahrung erzeugt, dass ich in einer Welt außerhalb meines Gehirns anwesend bin . Alles, was wir heute über das menschliche Gehirn wissen, deutet darauf hin, dass die Erfahrung, sich außerhalb
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