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Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel
Autoren: Thomas Metzinger
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Meinungen über es besitzen. Es verändert sich aber durch die Praxis selbst, durch die Art, wie wir in unserer ganz eigenen Lebenswelt handeln (denken wir nur an Weinkenner, Parfümdesigner, Ausdruckstänzerinnen oder musikalische Genies). Menschen in anderen historischen Epochen – etwa während des vedischen Zeitalters im Alten Indien (also etwa von 1500 bis 600 v. Chr.) oder während des europäischen Mittelalters, als Gott noch als eine reale und konstante Gegenwart wahrgenommen wurde – kannten wahrscheinlich Formen des subjektiven Erlebens, die uns heute fast unzugänglich sind. Viele tiefe Formen des bewussten Selbsterlebens sind im Gefolge der philosophischen Aufklärung und des Aufstiegs von Naturwissenschaft und Technologie so gut wie unmöglich geworden – zumindest für die vielen Millionen von gebildeten und wissenschaftlich informierten Menschen in den reichen Ländern. Neue sind entstanden. Theorien verändern die soziale Praxis, und die Praxis verändert irgendwann die Gehirne selbst, die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen. Die Theorie der neuronalenNetze beschreibt die Informationsarchitektur im Gehirn von Menschen und anderen Tieren, bei der Milliarden einzelner Nervenzellen in der Art eines Netzes miteinander verknüpft sind, in dem sich dann ständig Aktivitätsmuster bilden und sich in immer neue Muster verwandeln. Durch diese Theorie haben wir gelernt, dass die Unterscheidung zwischen der Struktur und dem Inhalt – also zwischen dem Träger eines mentalen Zustands und dessen innerer Bedeutung – nicht so eindeutig ist, wie gerade viele Geisteswissenschaftler oft annehmen. Die Bedeutung verändert nämlich die Struktur selbst, wenn auch häufig nur langsam. Und die Struktur ist ihrerseits das, was am Ende unser inneres Leben bestimmt, den Fluss des bewussten Erlebens.
    In den frühen 1970er Jahren, nachdem die große Zeit des Behaviorismus vorbei war, wuchs wieder das Interesse an Bewusstsein als einem Gegenstand ernsthafter Forschungen. In einer Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen avancierte das Thema des subjektiven Erlebens nach und nach zur heimlichen Forschungsfront. Dann, im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, akzeptierten endlich etliche bedeutende Hirnforscher Bewusstsein auch in der Öffentlichkeit als ein für die streng naturwissenschaftliche Forschung angemessenes Erkenntnisziel. Von da an begannen die Dinge sich sehr schnell zu entwickeln. Im Jahr 1994, im Anschluss an eine sehr bunte Konferenz von Bewusstseinsforschern in Tucson, Arizona, half ich dabei, eine neue Organisation zu gründen, die Association for the Scientific Study of Consciousness (ASSC). Ihr Ziel besteht darin, den harten Kern der wirklich ernsthaften Forscher in der Naturwissenschaft und aus der Philosophie des Geistes zusammenzubringen. Die Zahl von wissenschaftlichen Tagungen und Zeitschriftenartikeln stieg steil an. 2 Im folgenden Jahr gab ich eine Sammlung philosophischer Texte unter dem Titel Bewusstsein – Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie heraus, die gleichzeitig auch auf Englisch erschien. 3 Als ich mit einem meiner ASSC-Mitgründer, dem australischen Philosophen David Chalmers, die Bibliographie für dieses Buch zusammenstellte, deckte sie den Zeitraum von 1970 bis 1995 ab und enthielt etwa tausend Einträge. Zehn Jahre später, als ich diese Bibliographie für die fünftedeutsche Auflage überarbeitete, umfasste sie fast 2700 Einträge. An diesem Punkt gab ich jeden Versuch auf, die neu entstehende Fachliteratur über Bewusstsein komplett zu erfassen – es war ganz einfach nicht mehr möglich. Das Feld der seriösen Bewusstseinsforschung ist jetzt fest etabliert und entwickelt sich stetig weiter.
    Auf dem Weg dahin haben wir viele Lektionen gelernt. Wir haben gelernt, wie groß die Angst vor dem Reduktionismus ist, in den Geisteswissenschaften genauso wie in der allgemeinen Öffentlichkeit, und wie groß der Markt für Irrationalismus und Obskurantismus ist, für das, was man in den angelsächsischen Ländern »Mysterianism« nennt – die Tendenz, immer neue Nebelkerzen zu werfen und das Problem des Bewusstseins zu einem unlösbaren Mysterium hochzustilisieren. Es gibt natürlich eine klare und eindeutige philosophische Antwort auf die weitverbreitete Furcht, wonach Philosophen oder Naturwissenschaftler »das Bewusstsein reduzieren« werden, und sie besteht in dem Hinweis, dass Reduktion ausschließlich eine Beziehung zwischen Theorien ist und nicht zwischen Phänomenen.
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