Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
Vom Netzwerk:
beschämende Fetzen vor. Nachdem sie die einzigen beiden Kleider anprobiert hatte, die alle Voraussetzungen für einen solchen Anlass erfüllten, wurde sich Irene eines weiteren Problems bewusst, mit dem sie nicht gerechnet hatte.
    Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr schien ihr Körper an gewissen Stellen an Umfang zuzunehmen und an anderen zu verlieren. Als sich die fast Fünfzehnjährige nun im Spiegel betrachtete, fielen Irene die Launen der Natur stärker ins Auge als je zuvor. Ihre neue, kurvenreiche Figur passte nicht mehr zu den schlichten Schnitten ihrer angestaubten Garderobe.
    Ein glutrotes Band zog sich am Horizont über die Blaue Bucht, als Simone Sauvelle kurz vor dem Einbruch der Dunkelheit leise an ihre Tür klopfte.
    »Herein!«
    Ihre Mutter schloss die Tür hinter sich und erfasste mit einem raschen Röntgenblick die Situation. Sämtliche Kleider ihrer Tochter lagen auf dem Bett ausgebreitet. Irene stand in einem schlichten weißen Hemd am Fenster und beobachtete die fernen Lichter der Schiffe im Ärmelkanal. Simone betrachtete Irenes schlanken Körper und lächelte.
    »Die Zeit vergeht, und wir bemerken es gar nicht, nicht wahr?«
    »Mir passt keines mehr davon. Tut mir leid«, antwortete Irene. »Ich hab’s probiert.«
    Simone trat ans Fenster und ging neben ihrer Tochter in die Hocke. Die Lichter des Dorfes im Zentrum der Bucht malten schimmernde Aquarelle auf das Wasser. Die beiden betrachteten eine Weile das eindrucksvolle Schauspiel des Sonnenuntergangs über der Blauen Bucht. Simone streichelte ihrer Tochter übers Gesicht und lächelte.
    »Ich glaube, hier wird es uns gefallen. Was meinst du?«, fragte sie.
    »Und wir? Werden wir ihm gefallen?«
    »Lazarus Jann?«
    Irene nickte.
    »Wir sind eine bezaubernde Familie. Er wird uns lieben«, antwortete Simone.
    »Bist du sicher?«
    »Wäre gut, meine Kleine.«
    Irene deutete auf ihre Kleider.
    »Zieh eins von meinen an«, sagte Simone lächelnd. »Ich denke, sie werden dir besser stehen als mir.«
    Irene errötete leicht.
    »Dass du immer übertreiben musst«, warf sie ihrer Mutter vor.
    »Warten wir’s ab.«
     
    Der Blick, mit dem Dorian seine Schwester bedachte, als diese in einem Kleid von Simone am Fuß der Treppe erschien, war preiswürdig. Irene heftete ihre grünen Augen auf Dorian und gab ihm mit drohend erhobenem Zeigefinger einen gutgemeinten Rat:
    »Sag nichts.«
    Dorian nickte stumm, unfähig, seinen Blick von dieser Unbekannten zu wenden, die mit derselben Stimme sprach wie seine Schwester Irene und ihr aufs Haar glich. Simone bemerkte seine Miene und verkniff sich ein Lächeln. Dann legte sie mit feierlichem Ernst ihre Hand auf die Schulter des Jungen und ging vor ihm in die Hocke, um seine dunkle Haartolle glattzustreichen, ein Erbe seines Vaters.
    »Du bist von Frauen umzingelt, mein Junge. Gewöhn dich daran.«
    Dorian nickte erneut, halb resigniert, halb erstaunt. Als die Wanduhr acht Uhr schlug, waren alle bereit für die große Begegnung und in ihre besten Kleider gewandet. Und außerdem halbtot vor Angst.
     
    Eine sanfte Brise wehte von See und strich durch den dichten Wald rund um Cravenmoore. Das verborgene Wispern der Blätter begleitete die Schritte von Simone und ihren Kindern auf dem Pfad, der durch den Wald führte, ein regelrechter Tunnel, der in das dunkle, unergründliche Dickicht geschlagen war. Das bleiche Antlitz des Mondes lugte hinter dem Leichentuch aus dunklen Schatten hervor, das über dem Wald lag. Die Rufe der Vögel, die in den Kronen der gewaltigen, hundertjährigen Bäume nisteten, vereinten sich zu einer beunruhigenden Litanei.
    »Dieser Ort macht mir Gänsehaut«, bemerkte Irene.
    »Ach was«, fiel ihre Mutter ihr ins Wort. »Es ist einfach nur ein Wald. Vorwärts.«
    Dorian, der die Nachhut bildete, betrachtete schweigend die Schatten des Waldes. Die Dunkelheit formte bedrohliche Schemen und befeuerte seine Phantasie, die in ihnen Dutzende von teuflischen, auf der Lauer liegenden Kreaturen sah.
    »Bei Tageslicht ist hier nichts weiter als Gestrüpp und Bäume«, wiegelte Simone Sauvelle ab und pulverisierte den flüchtigen Zauber, dem Dorian nachhing.
    Einige Minuten später, nach einer nächtlichen Wanderung, die Irene endlos vorkam, standen sie vor der eindrucksvollen, verwinkelten Silhouette von Cravenmoore, das wie ein Märchenschloss aus dem Nebel auftauchte. Die Fenster des riesigen Anwesens von Lazarus Jann waren von goldenem Licht erleuchtet. Das Heer von Wasserspeiern zeichnete sich vor
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher