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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Armand Sauvelle. Offensichtlich benötigte ein begüterter Erfinder und Spielzeugfabrikant namens Lazarus Jann eine Hauswirtschafterin, die sich um sein palastartiges Anwesen im Wald von Cravenmoore kümmern sollte.
    Der Erfinder lebte in der riesigen Villa neben seiner früheren Spielzeugfabrik, die mittlerweile geschlossen war. Seine einzige Gesellschaft war seine Frau Alexandra, die seit zwanzig Jahren schwerkrank in einem Zimmer des großen Hauses lag. Die Bezahlung war großzügig, und außerdem bot Lazarus Jann der Familie die Möglichkeit, in das Haus am Kap zu ziehen, ein einfaches Haus oben auf den Klippen, am anderen Ende des Walds von Cravenmoore.
    Mitte Juni 1937 verabschiedete Monsieur Leconte die Familie Sauvelle auf Bahnsteig sechs der Gare d’Austerlitz. Simone und ihre beiden Kinder bestiegen den Zug, der sie an die Küste der Normandie bringen sollte.
    Während der alte Leconte den Zug in der Ferne verschwinden sah, lächelte er vor sich hin, und für einen Augenblick hatte er das Gefühl, dass die Geschichte der Sauvelles, ihre wahre Geschichte, gerade erst begonnen hatte.

2. Geographie und Anatomie
    Normandie, Sommer 1937
    An ihrem ersten Tag im Haus am Kap versuchten Irene und ihre Mutter ein wenig Ordnung in ihr neues Zuhause zu bringen. Dorian entdeckte unterdessen seine neue Leidenschaft: die Geographie, oder genauer gesagt, das Zeichnen von Karten. Mit Stiften und einem Heft bewaffnet, die Henri Leconte ihm bei der Abreise geschenkt hatte, zog sich der Sohn von Simone Sauvelle auf ein kleines Plateau zwischen den Klippen zurück, einen hervorragenden Ausguck, der ihm eine spektakuläre Aussicht bot.
    Das Dorf und die kleine Fischermole beherrschten das Zentrum der breiten Bucht. Östlich davon erstreckte sich ein endloser weißer Sandstrand, eine perlweiße Wüste am Meer, auch als »der Strand des Engländers« bekannt. Und dann folgte die Nadel des Kaps, die sich wie eine spitze Kralle ins Meer bohrte. Das neue Zuhause der Sauvelles befand sich an seiner äußersten Spitze, die den Ort von dem breiten Golf trennte, der von den Einheimischen wegen seines tiefen, dunklen Wassers die Schwarze Bucht genannt wurde.
    Draußen auf dem Meer, eine halbe Meile vor der Küste, konnte Dorian im sich auflösenden Dunst die kleine Leuchtturminsel erkennen. Der Leuchtturm ragte dunkel und geheimnisvoll aus den Nebelschwaden auf. Wenn er zur Landseite blickte, sah Dorian seine Schwester Irene und seine Mutter auf der Veranda des Hauses am Kap.
    Ihre neue Unterkunft war ein zweistöckiges weißes Holzhaus, das hoch oben auf den Felsen klebte: eine Terrasse über dem Nichts. Gleich hinter dem Haus begann der dichte Wald, und über den Wipfeln der Bäume war das majestätische Anwesen von Lazarus Jann zu erkennen, Cravenmoore.
    Cravenmoore erinnerte eher an ein Schloss, ein kathedralenartiges Hirngespinst, Ausgeburt einer überspannten, gequälten Phantasie. Seine verschachtelten Dächer waren mit einem Labyrinth aus Bögen, Strebepfeilern, Türmchen und Kuppeln übersät. Das Gebäude erhob sich über einem kreuzförmigen Grundriss, von dem mehrere Flügel abgingen. Dorian betrachtete eingehend die unheimliche Silhouette von Lazarus Janns Wohnsitz. Ein Heer von Wasserspeiern und Engeln wachte über dem Fassadenfries wie eine Schar versteinerter Gespenster in Erwartung der Nacht. Während er sein Heft zuklappte und sich auf den Rückweg zum Haus am Kap machte, fragte sich Dorian, was für ein Mensch sich einen solchen Ort zum Leben aussuchte. Er würde es bald herausfinden, denn an diesem Abend waren sie zum Essen nach Cravenmoore eingeladen. Eine freundliche Geste ihres neuen Wohltäters, Lazarus Jann.
     
    Irenes neues Zimmer wies in Richtung Nordwesten. Von ihrem Fenster aus konnte sie die Leuchtturminsel und die Lichtflecken sehen, die die Sonne auf den Ozean malte, Seen aus gleißendem Silber. Nach den beengten Monaten in der winzigen Wohnung in Paris kam ihr ein eigenes Zimmer beinahe wie ein anstößiger Luxus vor. Es war ein berauschendes Gefühl, die Tür schließen zu können und einen Platz ganz für sich allein zu haben.
    Während sie zusah, wie die untergehende Sonne das Meer kupferrot färbte, hing sie der Frage nach, was sie zu ihrem ersten Abendessen mit Lazarus Jann anziehen sollte. Sie besaß nur noch einen kleinen Teil ihres einstmals gut gefüllten Kleiderschranks. Bei der Vorstellung, im Herrenhaus von Cravenmoore empfangen zu werden, kamen ihr all ihre Kleidungsstücke wie armselige,
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