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Der dunkle Thron

Der dunkle Thron

Titel: Der dunkle Thron
Autoren: Rebecca Gablé
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einmal viel besser, als ich bin, dachte Nick unbehaglich, aber Sir Thomas hatte wie so oft eins seiner rhetorischen Zauberkunststücke aus dem Ärmel geschüttelt, sodass es praktisch unmöglich war, ihm zu widersprechen, ohne unhöflich zu sein.
    »Vierzehn also«, nahm More den Faden wieder auf. »Ich hätte gedacht, mindestens sechzehn. Aber daran können wir nichts ändern. Du musst nach Hause gehen und ihn zur Vernunft bringen. Denn auf mich wird er nicht hören, fürchte ich.«
    Nick schüttelte mutlos den Kopf. »Auf mich erst recht nicht. Die meiste Zeit vergisst er, dass es meine Geschwister und mich überhaupt gibt. Er … er lebt in einer völlig eigenen Welt.«
    »Dann musst du ihn wachrütteln. Eh es zu spät ist.«
    »Aber Sir …«, begann Nick abzuwehren, doch er verstummte, als Sir Thomas’ Hand wieder auf seine Schulter fiel.
    »Du weißt, was er riskiert«, sagte Thomas More eindringlich und ließ den Jungen nicht aus den Augen. »Er muss Vernunft annehmen.«
    Die Hand fühlte sich schwer an und so warm, dass sie Nick durch das Tuch seines Wamses hindurch zu verbrennen schien. »Aber … könnt Ihr ihn nicht beschützen, Sir Thomas? Ihr wisst doch, dass er harmlos ist. Und er ist Euer Freund.«
    Thomas Mores Blick war voller Mitgefühl, aber ebenso unerbittlich. »Er ist mir teuer«, räumte er ein. »Aber kein Ketzer ist harmlos, Nicholas. Und kein Ketzer kann jemals mein Freund sein.«

Waringham, Juli 1529
    Er war fußwund, müde und hungrig, als er kurz vor Einbruch der Dämmerung nach Hause kam. In aller Herrgottsfrühe hatte er ein Boot bestiegen, das ihn von Chelsea bis nach Tickham die Themse hinuntergebracht hatte, und von dort aus war er zu Fuß gegangen. Vielleicht zwanzig Meilen, schätzte er. Der Tag war verhangen und schwül gewesen, aber zur Abwechslung einmal trocken, und Nick hatte seine Wanderung durch Kent genossen. In den letzten zwei Jahren hatte er nie genug Bewegung gehabt, denn Gottesdienst und Schulunterricht hatten seine Tage bestimmt, und manchmal hatten seine Glieder sich so sehr danach gesehnt, sich zu strecken, zu rennen, zu fechten, zu arbeiten – irgendetwas zu tun, das ihm bewies, dass er nicht nur aus Geist, sondern auch aus Materie bestand. An manchen Tagen war ihm das Stillsitzen zur Qual geworden. Also war er gelaufen und hatte sich mit Wonne verausgabt, während seine Augen sich nach Herzenslust an den Wäldern und Wiesen, den Hügeln und Tälern und kleinen Flüsschen sattgesehen hatten.
    Aber jetzt war er dankbar, dass er angekommen war. Er überquerte die alte Zugbrücke, trat durch das unbewachte Torhaus in den Innenhof von Waringham Castle und blieb wie angewurzelt stehen. »Oh, mein Gott …«
    Ungläubig starrte er nach rechts zum alten Bergfried hinüber. Der viergeschossige steinerne Turm – einst das Herzstück der Burg, das ihren Bewohnern Wohnstatt gleichermaßen wie Sicherheit geboten hatte – stand schon lange leer. Nicks Großvater hatte noch eine Ritterschaft und eine Burgwache unterhalten, die das alte Gemäuer bewohnt hatten, und damals waren auch Küche und Vorratsräume, die Waffenkammer und gelegentlich sogar die Verliese in Betrieb gewesen. Das war lange her. Doch zumindest von außen hatte der alte Kasten immer noch so ausgesehen, als könnten die ruhmreichen Ritter von einst morgen wieder einziehen. Selbst diese Illusion war jetzt indes Vergangenheit: Der vordere rechte Eckturm war eingestürzt und hatte ein gutes Stück des Gemäuers mit in die Tiefe gerissen. Die Butzenfenster der Halle wiesen mehr rautenförmige Löcher als Scheiben auf, manche waren auch gähnende leere Öffnungen.
    Der Bergfried von Waringham Castle war eine Ruine.
    »Das Dach des Turms hat einfach nachgegeben unter dem Schnee letzten Winter«, sagte eine vertraute Stimme hinter Nicks rechter Schulter. »Die Balken müssen morsch gewesen sein.«
    Er wandte sich um. »Laura …« Reglos sah er seine Schwester an, als sei sie eine Fremde, noch zu beschäftigt mit dem Schock, den der Anblick des Burgturms ihm versetzt hatte. Dann nahm er sich zusammen, machte einen Schritt auf sie zu und schloss sie in die Arme. »Was tust du noch hier? Ich dachte, du bist verheiratet?«
    Für einen Moment schnürten ihre Arme ihm beinah die Luft ab. Dann ließ sie ihn los. »Bin ich auch. Aber wir leben hier. Jedenfalls fürs Erste. Die Sumpfhexe behauptet, Vater hätte das Geld für die Mitgift erst nach der nächsten guten Ernte. Und ohne die Mitgift kann Philipp sich
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