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Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate

Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate

Titel: Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate
Autoren: Linda Holeman
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die wöchentlichen Klassenarbeiten zu bestehen.
    Eines Freitags reichte mir meine Mutter zusammen mit den neuen Aufgaben einen versiegelten Brief von einer der Ordensschwestern, die mich früher unterrichtet hatte. Als ich den Brief auseinanderfaltete, fiel eine kleine, goldumrandete Gebetskarte auf meine Bettdecke.
    Die winzige, enge Handschrift der Schwester sah aus, als wäre jeder einzelne Buchstabe durch die Federhalterspitze herausgepresst worden, und ich hatte Mühe, sie zu entziffern.
    Meine liebe Sidonie, las ich, verzweifle nicht. Es ist Gottes Wille. Du wurdest auserkoren, um diese Prüfung zu bestehen. Es ist nur eine Prüfung deines Fleisches; Gott hat dich für unzulänglich befunden und dich deswegen auserwählt. Andere sind gestorben, aber du hast überlebt. Dies ist der Beweis dafür, dass Gott dich aus irgendeinem Grund beschützt und dir gleichzeitig diese Last auferlegt hat, die du für den Rest deines Lebens wirst tragen müssen. Auf diese Weise hat er dir gezeigt, dass du etwas ganz Besonderes für ihn bist.
    Als ein Krüppel wirst du nun von Gott getragen werden und Ihn mit einer Intensität erleben, wie es andere mit unversehrtem Körper nicht vermögen.
    Du musst beten, und Gott wird dir antworten. Ich werde ebenfalls für dich beten, Sidonie.
    Schwester Marie-Gregory
    Meine Hände zitterten, als ich den Brief zusammenfaltete und ihn gemeinsam mit der Gebetskarte in den Umschlag zurücksteckte.
    » Was ist los, Sidonie? Du bist ja ganz blass geworden«, sagte meine Mutter.
    Ich schüttelte den Kopf und legte den Brief zwischen die Seiten meines Schulbuchs. Als ein Krüppel – so hatte sich die Schwester ausgedrückt. Für den Rest deines Lebens.
    Zwar hatte Schwester Marie-Gregory auch geschrieben, dass ich etwas Besonderes für Gott sei, doch nun wurde mir schlagartig und mit aufsteigender Übelkeit klar, dies bedeutete keineswegs, dass er mir mein Gehvermögen zurückgeben würde, wie meine Mutter nicht aufhörte zu beteuern. Aber ebenso klar war mir auch, dass meine Polioerkrankung keine mir von Gott auferlegte Prüfung war, wie die Schwester meinte. Ich allein wusste, warum ich mir die Infektion zugezogen hatte. Es war die Strafe für meine sündhaften Gedanken.
    Seit Luke McCallisters Auftauchen in der Larkspur Street hatte ich aufgehört, um Vergebung für meine Verfehlungen zu beten. In meinen Fürbitten gedachte ich nicht mehr den Kranken und im Sterben liegenden Gemeindemitgliedern. Ich betete nicht mehr für unsere jungen Männer, die in dem schrecklichen Krieg kämpften, ebenso wenig wie für ein baldiges Ende des Krieges. Und auch nicht mehr für die hungernden schwarzen Kinder in fernen Ländern. Ich flehte Gott nicht länger wegen meiner Mutter an, damit sie von den Schmerzen in ihren arthritisgeplagten Händen erlöst werden möge, und auch nicht wegen meines Vaters, damit er nicht länger von den wiederkehrenden Albträumen heimgesucht wurde und endlich wieder Schlaf fand.
    Stattdessen hatte ich dafür gebetet, von einem Jungen in die Arme geschlossen, von ihm geküsst zu werden. Ich hatte dafür gebetet, die Geheimnisse der körperlichen Liebe kennenzulernen, zu erfahren, wie es sich anfühlte, wenn sich ein männlicher Körper gegen meinen presste. Mit den Händen hatte ich meinen Körper erkundet, in dem ein unerklärliches Verlangen loderte, und mir vorgestellt, es wären Luke McCallisters Hände. Ich hatte eine der sieben Todsünden begangen – Wollust – und war dafür bestraft worden.
    Eine Woche nach Erhalt des Briefes bekam ich erneut Besuch vom Arzt des staatlichen Gesundheitsdienstes. Dieses Mal war ich, anders als bei seiner ersten Visite, wachsam und beobachtete aufmerksam seine Miene. Darin las ich, dass er schon allzu viele Opfer der Kinderlähmung in zu kurzer Zeit gesehen hatte. Nachdem er meine Beine gebeugt, die Reflexe überprüft und mich aufgefordert hatte, nach seinen Anleitungen ein paar wenige Übungen auszuführen, stimmte er seufzend und ohne seine Resignation verhehlen zu wollen, der Prognose Schwester Marys zu, die sie schriftlich niedergelegt hatte. Ich solle froh sein, so fuhr er fort, dass die Krankheit nur meine unteren Gliedmaßen befallen habe, und ich sei besser dran als viele der Kinder, die die Krankheit zwar ebenfalls überlebt hätten, aber vollständig gelähmt seien.
    Nach dem Besuch des Arztes nahm ich meine Gebete wieder auf. Doch Luke McCallister fand diesmal keine Erwähnung mehr.
    Himmlischer Vater, gnädige Muttergottes,
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