Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate

Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate

Titel: Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate
Autoren: Linda Holeman
Vom Netzwerk:
– oder wieder – an meinem Bett. Seltsamerweise sah mein Vater durch das offene Fenster zu mir herein.
    » Papa?«, flüsterte ich. » Warum bist du draußen?«
    Sein Gesicht zog sich in Falten, und sein Kinn bebte merkwürdig. Plötzlich wurde mir bewusst, dass er weinte. Er legte die Hand an die Stirn, und die Geste kam mir vor, als fügte er sich in eine Niederlage.
    » Was ist los?«, fragte ich und blickte aufmerksam zwischen ihm und meiner Mutter hin und her.
    » Du hast Kinderlähmung, mein Mädchen«, sagte er.
    In jenem Sommer des Jahres 1916 wütete eine Polioepidemie im Bundesstaat New York. Die Ärzte konnten die Krankheit zwar diagnostizieren, kannten aber offensichtlich weder ein Mittel zur Vorbeugung noch Heilung. Der Großteil der Infizierten waren Kinder unter zehn Jahren, doch ein paar, darunter auch ich, waren älter. Niemand wusste, wo die Epidemie begonnen hatte, doch mit der Zeit wurde gemunkelt, dass Immigranten sie ins Land geschleppt hätten.
    Zahlreiche Kinder starben. Und meine Eltern sagten mir, ich hätte noch Glück im Unglück. » Ein weiteres Wunder«, hatte mir meine Mutter ins Ohr geflüstert, als ich endlich wieder bei mir war und begriff, was mit mir passiert war. » Ein weiteres Wunder, so wie deine Geburt, Sidonie. Wir müssen dem Himmel dafür danken.«
    Die Krankheit war ansteckend, das war bekannt; ich war unter Quarantäne gestellt. Da meine Mutter von Anfang an mit mir Kontakt gehabt hatte, blieb sie im Haus und hielt sich die meiste Zeit in meinem Zimmer auf. Doch mein Vater durfte unser Haus einige Wochen lang nicht mehr betreten; er war auf seine Stelle als Chauffeur bei einer dieser wohlhabenden Familien angewiesen, von denen es in unserem Landkreis einige gab.
    Margaret und Alice Ann und andere Schulfreundinnen legten kleine Geschenke – gestreifte Zuckerstangen, eine Haarschleife – auf die Veranda vor die Tür, an der ein Aushang der Gesundheitsbehörde befestigt war, der verkündete, dass dieses Haus unter Quarantäne stand. In den ersten Wochen wurde meine Mutter nicht müde zu betonen, dass es mir bald besser gehen, die Kraft wieder in meine Beine zurückkehren würde. Sie befolgte die Anweisungen, die sie von der Krankenschwester des staatlichen Gesundheitsdienstes erhielt, die sich wiederum mit dem Arzt absprach, der mich behandelte. Täglich bestäubte sie meine Beine mit Mandelmehl. Sie machte unzählige heiße Umschläge mit Kamille, Ulmenrinde, Senf und weiteren widerlich riechenden Ölen und umwickelte damit meine Beine. Sie massierte meine Schenkel und Waden.
    » Wann werde ich wieder stehen können?«, hörte ich nicht auf zu fragen, in der Hoffnung, eines Morgens aufzuwachen, die Bettdecke zurückzuwerfen und dann, wie früher, flink mein Zimmer zu durchqueren.
    Meine Mutter murmelte: » Bald, Sido, bald. Erinnerst du dich, wie du als kleines Mädchen durch den Hinterhof liefst und eine kleine Prinzessin spieltest, wie die in deinen Büchern? Wie du herumwirbeltest und sich dein Kleid um dich herum bauschte wie eine wunderschöne Blume? Eines Tages wirst du das wieder sein, Sidonie. Eine Prinzessin. Eine wunderschöne Blume. Meine ganz besondere Blume, mein kleines Wunder.«
    Die Tatsache, dass ihre Augen feucht wurden, als sie dies sagte, ließ mir ihre Worte nur noch überzeugender erscheinen, statt mich stutzig zu machen.
    Während der ersten Monate weinte ich häufig – aus Ungeduld, Enttäuschung, Selbstmitleid. Meine Eltern waren voller Mitgefühl und bemühten sich sowohl mit Worten als auch mit Taten, mir mein Schicksal erträglicher zu machen. Nach einiger Zeit war ich meiner geröteten Augen und des Kopfwehs in Folge des häufigen Weinens überdrüssig und beschloss, keine Tränen mehr zu vergießen, und das tat ich dann auch.
    Nachdem die Quarantäne aufgehoben war und sobald ich mich in der Lage fühlte, Besuch zu empfangen, kamen meine Freundinnen zu mir – das neue Schuljahr hatte gerade angefangen. Während dieser ersten Besuche lauschte ich ihren Geschichten, und mein eigenes Leben fühlte sich an wie ein seltsamer, beunruhigender Dämmerschlaf, aus dem ich nicht zu erwachen vermochte. Immer wieder nickte ich zu ihren Erzählungen und stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich wieder mit ihnen in die Schule ginge.
    Jeden Freitag holte meine Mutter die Hausaufgaben in der Schule ab und übergab die erledigten Aufgaben der vergangenen Woche meiner Lehrerin: Mithilfe der Schulbücher war ich in der Lage, die Hausaufgaben zu machen und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher