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Der Duft des Sussita

Der Duft des Sussita

Titel: Der Duft des Sussita
Autoren: Robert Scheer
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Höhlen von Nazareth, bei den beiden Frauen, die nun die Augen zum Himmel erheben. Die starke Sonne blendet sie schmerzhaft. Sie schließen kurz die Augen.
    Der Gesichtsausdruck der Frauen ist in seiner Ernsthaftigkeit vielleicht tatsächlich als fromm zu bezeichnen, die Gesichter bleich und leicht entrückt, passend zur christlichen Verborgenheit dieser Stätte, in der nicht selten ein Übermaß der Gefühle über die Vernunft zu herrschen beginnt. An diesem Ort der monotheistischen Magie ist alles möglich. Sogar ein Wunder. Einige Kreuze schlagen, ein inbrünstiges Gebet, und es könnte geschehen. Hier und jetzt. In diesem Museum vergangener Zeiten. Halleluja.
    Tochter und Mutter haben die atemberaubende, mystische, bis zum Weinkrampf ergreifende Atmosphäre der Basilika absorbiert, die üppigen Weihrauchschwaden inhaliert, das Vaterunser rezitiert, wie in Trance, jede einen Rosenkranz in der Hand – vor einigen Tagen auf dem Markt in Jerusalem erworben.
    Die beiden Frauen spüren ein heimliches Flattern im Herzen. In allen Gliedern. Das plötzliche Läuten der Glocken geht ihnen durch Mark und Bein. Die Glocken von Nazareth!
    Es ist schon ein Uhr, sagt die ältere Frau, wie die Zeit vergeht. Mehr als zwei Stunden haben sie in dieser Kirche verweilt. Phänomenal.
    Was sind schon die Kirchen, die wir bis heute sahen, sagt die Jüngere. Die Ältere nickt selig, als wären die Worte der Tochter gesegnete Verse eines heiligen Buchs. Die Mutter nickt mit dem Kopf – wie abwesend, und haucht: Weh mir. Wie schön, flüstert die Tochter. Wie wunderschön und heilig.
    Mit dem flachen Atem der Verzückung treten die beiden, einander zärtlich umarmend, in die freie Zone des Weltlichen, außerhalb des schattigen und kühlen, kryptisch-düsteren Platzes des Heiligtums.
    Sie gehen mit kurzen Schritten, als schwebten sie – ähnlich wie der Nazarener, der übers Wasser ging –, mit gleichzeitig sicheren und unsicheren Bewegungen gelangen sie langsam, aber sicher in die Hitze eines normalen Tages inmitten der turbulenten Realität des Nahen Ostens.
    Gleißende Sonne. Granatäpfel, Orangen und Bananen. Hitze. Naturgemäß Hitze. Große Hitze. In diesem Teil der Welt ist eine Wettervorhersage lächerlich. Sinnlos und überflüssig. Jedes Kind kann das Wetter vorhersagen. Ob es sich nun um dreiunddreißig oder fünfunddreißig oder neununddreißig Grad im Schatten handelt, ist unwichtig. Auch die Experten können diese Nuancen nicht präzise vorhersehen. Es sind ohnehin immer gefühlte fünf bis zehn Grad mehr, als sie prophezeien. Das Barometer ist sparsam wie ein Schwabe. Schwalben und andere Vogelarten suchen wie Besessene nach Schatten. Ein Hut auf dem Kopf hilft nicht. Jedenfalls nicht immer.
    Die Mittagssonne ist immer die gefährlichste. Ihr Stich fühlt sich an wie ein Schlangenbiss. Eine durch und durch lebensgefährliche Sonne gibt es hier im Norden Israels. Überall in Israel. Nazareth ist keine Ausnahme.
    Die Kirche ist für viele ein klimatisches Refugium, jedem bietet sie Asyl vor Naturgewalten. Denn dieses Mittelmeerklima kann einen an dreihundert Tagen im Jahr in den Wahnsinn treiben. Nicht aber die beiden Frauen aus Europa, nein, die Europäer mögen die Sonne, weil sie dort so wenig Sonne haben. Alle wollen ja, was sie nicht haben.
    Sie fliehen also nicht zurück in die Kirche, wie es hier üblich ist. Nicht unsere beiden Frauen.
    Dabei tauchen plötzlich Menschenmassen wie aus dem Nichts auf. Sogar Juden und Muslime flüchten sich in die Kirche. Buddhisten, Hindus und andere Heiden auch. Die massiven Wände funktionieren wie eine erstklassige Klimaanlage. Bald kommen die wärmsten Stunden des Tages. Lebensgefährliche Stunden. Unerträgliche Stunden für die Einwohner. Auch den lokalen Tieren ein Dorn im Auge, ein Stachel im Fleisch. Die Sonne. Die Kirche schützt ja alle, denken viele.
    In der Mittagszeit sind die Straßen fast menschenleer. Auch keine Tiere in Sicht. Nur Amerikaner und viele Russen. Ungeheuer viele Russen, und als Zugabe eine gute Portion Europäer. Westeuropäer, Mitteleuropäer, Osteuropäer und obendrein ein paar zur Neutralität neigende Schweizer. Diese internationale Gesellschaft machen sich einige tüchtige Händler zunutze. Sie riskieren viel, aber machen gute Geschäfte. Die Araber. Juden sind kaum im alten Nazareth zu finden. Fast nur Araber. Christen und Muslime. Mehr christliche Araber als muslimische Araber. Naturgemäß, die Geschäfte hier sind christliche Geschäfte.
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