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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel
Autoren: Upton Sinclair
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Mykolas innerhalb der letzten drei Jahre nun schon mit Blutvergiftung zu Hause gelegen, einmal drei und einmal bald sieben Monate. Beim zweiten Mal verlor er auch noch seine Stelle, und das bedeutete weitere sechs Wochen ohne Verdienst, mit täglichem Anstehen vor den Konservenfabriken, früh um sechs, bei bitterer Kälte und in fußhohem Schnee. Kluge Leute können einem an Hand von Statistiken beweisen, daß ein Ausbeiner auf vierzig Cent die Stunde kommt, aber wahrscheinlich haben sie noch nie eines Ausbeiners Handflächen gesehen.
    Wenn Tamoszius und seine Mannen mal notgedrungen Pause machen, bleiben die Tanzenden stehen, wo sie gerade sind, und warten geduldig. Zu ermüden scheinen sie nie, und außerdem wäre auch gar kein Platz da, wo sie sich hinsetzen könnten. Es ist ja ohnehin nur für eine Minute, denn schon fängt der Kapellmeister wieder an, ungeachtet aller Proteste der beiden Kollegen. Diesmal ist es ein anderer, ein litauischer Tanz. Einige bleiben bei ihrem geliebten Twostep, die meisten aber gehen eine verwickelte Folge von Bewegungen durch, die mehr an Schlittschuhlaufen als an Tanzen erinnern. Das Ganze gipfelt in einem rasenden Prestissimo, bei dem sich die Paare an den Händen fassen und sich wie wild zu drehen beginnen. Das ist so mitreißend, daß sich alle anschließen, bis der ganze Saal zu einem einzigen Wirbel von Röcken und Leibern wird, überaus verwirrend anzuschauen. Den Anblick aller Anblicke aber bietet jetzt Tamoszius Kuszleika. Die alte Fiedel krächzt und kreischt um Erbarmen, doch ihr Herr hat kein Mitleid. Auf seiner Stirn perlt Schweiß, er beugt sich vor gleich einem Radrennfahrer im Endspurt, sein Körper vibriert und rüttelt wie eine durchgegangene Dampflok. Dem Hagelschauer seiner Töne vermag das Ohr gar nicht mehr zu folgen, und das hetzende Hin und Her seines Arms nimmt das Auge nur verschwommen als bläulichen Nebel wahr. In grandioser Steigerung kommt er schließlich zum Ende des Stücks, wirft die Hände empor und taumelt erschöpft zurück. Mit einem letzten Ausruf der Begeisterung fliegen die Tänzer auseinander, wanken hierhin und dorthin und kommen erst an den Wänden des Saals zum Stehen.
    Danach gibt es Bier für alle, auch für die Musikanten. Die Ausgepumpten atmen tief durch und sammeln Kraft für das große Ereignis des Abends, den »Acziavimas«. Das ist eine Zeremonie, die, hat sie erst einmal angefangen, gut und gern drei, vier Stunden dauert und aus einem ununterbrochenen Tanz besteht. Die Gäste bilden einen großen Ring, fassen sich an den Händen, und wenn die Musik einsetzt, beginnen sie sich im Kreis zu bewegen. In der Mitte steht die Braut, und einer nach dem andern treten die Männer vor und tanzen mit ihr – jeder so lange er mag. Es geht dabei sehr lustig zu, mit Lachen und Singen, und hat der Gast zu Ende getanzt, sieht er sich Teta Elzbieta gegenüber, die ihm einen Hut hinhält. In den wirft er dann Geld hinein: einen Dollar, vielleicht auch fünf, was gerade in seinen Kräften steht und wieviel ihm die Ehre wert ist. Es wird von den Gästen erwartet, daß sie für dieses Vergnügen zahlen; anständige Gäste sorgen dafür, daß nach Abzug der Ausgaben eine hübsche Summe als Starthilfe für das junge Paar übrigbleibt.
    Was diese Feier kostet – bei dem Gedanken daran kann einem himmelangst werden. Sicher über zweihundert Dollar, wenn nicht gar dreihundert, und dreihundert Dollar, das ist mehr, als so mancher hier im Saal das ganze Jahr verdient. Es sind kräftige Männer darunter, die von frühmorgens bis spätabends schwer arbeiten, in eiskalten Kellern, wo zollhoch Wasser steht, Männer, die sechs, sieben Monate im Jahr vom Sonntagnachmittag bis zum nächsten Sonntagmorgen nie die Sonne zu sehen kriegen, und die dennoch auf keine dreihundert Dollar kommen. Es sind Kinder hier, kaum älter als zehn, die gerade auf die Arbeitstische hinaufsehen können – die Eltern haben ihr Alter falsch angegeben, um ihnen die Stellen zu verschaffen –, und die im Jahr nicht die Hälfte, ja vielleicht nicht einmal ein Drittel dieser dreihundert Dollar nach Hause bringen. Und dann an einem einzigen Tag seines Lebens eine solche Summe auszugeben, nur für eine Hochzeitsfeier! (Denn ob man sie nun auf einen Schlag für die eigene Hochzeit ausgibt oder nach und nach für die Hochzeiten all seiner Freunde, läuft letzten Endes aufs selbe hinaus.)
    Gewiß, es ist eine große Torheit, ja eine Tragik – aber doch so schön! Einen heimatlichen Brauch
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