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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel
Autoren: Upton Sinclair
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dann alle drei Schritt für Schritt auf die Tafelnden zu, wobei Valentinavyczia, der Cellist, sein Instrument jeweils zwischen zwei Tönen ein Stückchen weiter schleift. Schließlich ist das Trio am unteren Ende der Tische versammelt, und Tamoszius steigt dort auf einen Hocker.
    Jetzt ist er ganz in seinem Element, beherrscht die Szene. Einige Leute essen, andere plaudern und lachen, aber es wäre weit gefehlt zu glauben, daß auch nur einer von ihnen nicht zuhöre. Tamoszius’ Töne sind nie ganz rein, denn bei den tiefen dröhnt seine Geige, während sie bei den hohen kratzt und quietscht, doch stört das alle ebensowenig wie der Lärm, der Schmutz und die Schäbigkeit ringsum; das ist das Material, aus dem sie ihr Leben schmieden – und mit dem sie auch ihre innersten Gefühle äußern müssen. Und dies hier ist deren Ausdruck; fröhlich und ausgelassen, traurig und wehmütig oder leidenschaftlich und aufrüttelnd, ist diese Musik ihre Musik, die Musik der Heimat. Sie streckt ihnen die Arme entgegen, sie brauchen sich ihr nur hinzugeben. Chicago, seine Kneipen und Elendsquartiere verblassen, grüne Wiesen und im Sonnenlicht glitzernde Flüsse tauchen auf, endlose Wälder und schneebedeckte Hügel. Heimatliche Landschaften und Bilder aus der Kindheit ziehen herauf; alte Freundschaften und Lieben erwachen, Freud und Leid von einst macht wieder lachen und weinen. Manche lehnen sich gedankenverloren zurück und schließen die Augen, andere trommeln auf der Tischplatte den Takt mit. Ab und an steht einer auf und wünscht ein bestimmtes Lied zu hören. Dann leuchtet das Feuer in Tamoszius’ Augen heller auf, er reißt die Geige hoch, ruft seinen Kollegen etwas zu, und schon legen die drei wie um die Wette los. Den Kehrreim singen alle mit, die Frauen nicht weniger laut als die Männer; einige springen auf die Füße und stampfen auf den Boden, heben ihre Gläser und prosten einander zu. Bald fällt irgendwem ein altes Hochzeitslied ein, das die Schönheit der Braut und die Freuden der Liebe besingt, und er verlangt, daß es gespielt werde. In der Ekstase dieses Meisterstücks beginnt Tamoszius, sich zwischen den beiden Tischen hindurchzuschieben, vor zum Platz der Braut. Zwischen den Stuhllehnen bleiben kaum zwei Handbreit Raum, und Tamoszius ist so klein, daß er jedesmal, wenn er einen weiter unten liegenden Ton streicht, jemanden mit seinem Bogen piekt, aber nichtsdestoweniger zwängt er sich dazwischen und beharrt schonungslos darauf, daß die beiden anderen ihm folgen; überflüssig zu sagen, daß während dieses Vorrückens die Klänge des Cellos fast untergehen. Schließlich langen die drei oben an, wo sich Tamoszius dann rechts neben der Braut aufbaut und anfängt, in schmelzenden Tönen seine Seele auszuschütten.
    Die kleine Ona ist zu aufgeregt, um etwas essen zu können. Hin und wieder kostet sie ein Häppchen, wenn Kusine Marija sie durch Zwicken in den Ellbogen dazu ermahnt, meist aber sitzt sie nur da, mit immer gleichem Blick, einer Mischung aus Schüchternheit und Staunen. Teta Elzbieta umschwirrt sie wie ein Kolibri, und auch ihre Freundinnen flattern in einem fort hinter ihr herum und tuscheln ihr atemlos etwas zu. Doch Ona scheint sie kaum zu hören – die Musik lockt und lockt, und in ihre Augen tritt wieder der entrückte Ausdruck, während sie beide Hände ans Herz preßt. Nicht lange, und es kommen ihr Tränen, und weil sie sich geniert, sie wegzuwischen, es ihr aber genauso peinlich ist, sie die Wangen hinunterlaufen zu lassen, wendet sie sich mit leichtem Kopfschütteln ab. Sie merkt dabei, daß Jurgis sie beobachtet, und läuft rot an. Als Tamoszius schließlich bei ihr angelangt ist und seinen Zauberstab über ihr schwingt, sind Onas Wangen purpurfarben, und sie sieht aus, als müsse sie gleich aufstehen und hinausstürzen.
    Aus dieser Bedrängnis rettet sie jedoch Marija Berczynskas, die plötzlich ebenfalls von der Muse geküßt worden ist. Sie mag ein Lied besonders, ein Lied vom Abschied zweier Liebender; sie möchte es gern hören, und da die Musikanten es nicht kennen, hat sie sich erhoben und macht sich daran, es ihnen vorzusingen. Marija ist klein, aber von kräftiger Statur; in der Konservenfabrik, wo sie arbeitet, hantiert sie den ganzen Tag zehn Pfund schwere Fleischbüchsen. Sie hat ein breites slawisches Gesicht mit ausgeprägten Jochbeinen und roten Wangen. Wenn sie die Zähne entblößt, kann man, so tragisch es auch ist, nicht umhin, an ein Pferd zu denken. Sie trägt
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