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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel
Autoren: Upton Sinclair
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Neckereien austauschend, nehmen alle Platz. Die jungen Männer, die sich größtenteils nahe der Tür zusammengedrängt haben, fassen sich ein Herz und kommen heran, und der verschüchterte Jurgis wird von den Alten geschoben und gescholten, bis er sich schließlich zur Rechten der Braut hinsetzt. Die beiden Brautjungfern, deren Insignien Papierkränze sind, schließen sich an und danach die anderen Gäste, jung und alt, Männlein und Weiblein. Die Stimmung des Augenblicks erfaßt auch den vornehmen Büfettier, und er läßt sich herab, einen Teller Entenbraten anzunehmen; selbst der dicke Polizist – mit der Aufgabe, zu vorgerückter Stunde die Raufereien auseinanderzubringen – zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich ans Ende der Tafel. Die Kinder schreien, die Säuglinge plärren, und alle schwatzen, lachen und singen, während durch den ohrenbetäubenden Lärm hindurch Kusine Marija der Musik Anweisungen zuröhrt.
    Die Musikanten – wie soll man sie nur beschreiben? Sie sind von Anfang an hier und haben sich schon in Schwung gespielt. Diese Szene müßte zu Musik gelesen, besser noch gesungen werden. Erst die Musik macht das Fest zu dem, was es ist, erst die Musik verwandelt dieses Hinterzimmer einer Kneipe im Schlachthofviertel in den Ballsaal eines Schlosses im Märchenland, in ein Fleckchen Himmel auf Erden.
    Der kleine Mann, der das Trio leitet, ist beseelt. Die Saiten seiner Geige sind verstimmt, und auf seinem Bogen fehlt das Kolophonium, doch er ist beseelt – ihn hat die Muse geküßt. Er spielt wie besessen von einem Dämon, nein, von einer ganzen Horde Dämonen. Man kann sie in der Luft förmlich spüren, wie sie ihn wild umtanzen; mit ihren unsichtbaren Füßen geben sie das Tempo an, und der Maestro bemüht sich so, mit ihnen Schritt zu halten, daß seine Haare hochwippen und ihm die Augäpfel aus den Höhlen treten.
    Tamoszius Kuszleika ist sein Name, und das Geigespielen hat er sich selber beigebracht, durch nächtelanges Üben nach schwerer Tagesarbeit in der Schlachthalle. Er hat keinen Rock an, seine mit goldenen Hufeisen gemusterte Weste ist schon ziemlich verschossen, und sein weiß-rosa-gestreiftes Hemd erinnert an Pfefferminzstangen. Ein Paar Militärhosen, hellblau mit gelben Biesen, soll ihm wohl die einem Kapellmeister gebührende Autorität geben. Obwohl er nur einen Meter fünfzig mißt, ist dieses Beinkleid gut zwei Handbreit zu kurz. Man fragt sich, woher er es haben mag, vielmehr man würde sich das fragen, wäre ihn zu erleben nicht so aufregend, daß einem zu solchen Überlegungen gar keine Zeit bleibt.
    Denn Tamoszius ist beseelt, durch und durch beseelt – jede Faser von ihm einzeln, könnte man fast sagen. Er stampft mit den Füßen, wirft den Kopf zurück, wippt und wiegt hin und her; sein faltiges kleines Gesicht ist unwiderstehlich komisch, und wenn er eine Kadenz oder einen Triller ausführt, ziehen sich seine Brauen zusammen, flattern seine Lippen, zucken seine Lider, ja spreizen sich sogar die Enden seines Querbinders. Zwischendurch dreht er sich immer wieder zu seinen Mitspielern um, nickt, winkt, gestikuliert ihnen zu – sein ganzer Körper beschwört und appelliert im Namen der Kunst.
    Sie sind seiner nämlich wenig würdig, die beiden anderen Mitglieder der Kapelle. Die zweite Geige spielt ein Slowake, ein großer hagerer Mann mit schwarzgeränderter Brille und dem stumpfen, geduldigen Blick eines geschundenen Maultiers; er reagiert nur lahm auf die Peitsche, fällt immer wieder in seinen alten Trott zurück. Der Dritte im Bunde, ein Dicker mit roter, wie entzündet aussehender Knollennase, spielt mit schmachtvoll gen Himmel verdrehten Augen. Mit seinem Cello hat er den Baßpart, und so berührt ihn die ganze Aufregung nicht; was sich in den Oberstimmen auch tun mag, er hat nur die Aufgabe, einen langgezogenen und schwermütigen Ton nach dem andern herunterzusägen, und das – für sein Drittel an der Gesamtgage von einem Dollar pro Stunde – von heute nachmittag vier Uhr bis fast zur gleichen Stunde morgen früh.
    Das Festmahl ist noch keine fünf Minuten im Gang, da hat sich Tamoszius schon so in Ekstase gespielt, daß er aufsteht; ein, zwei Minuten weiter, und man sieht ihn sich langsam in Richtung Tische vorschieben. Seine Nasenflügel beben, sein Atem geht schnell – die Dämonen treiben ihn. Mit dem Kopf und mit seiner Geige macht er den beiden Kollegen Zeichen, bis sich endlich die lange Gestalt des zweiten Geigers ebenfalls erhebt. So rücken sie
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