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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel
Autoren: Upton Sinclair
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eine blaue Flanellbluse, deren Ärmel jetzt aufgerollt sind und ihre starken Arme zeigen. In der Hand hält sie eine Tranchiergabel, und mit der schlägt sie auf den Tisch, um den Takt anzugeben. Sie grölt ihr Lied mit einer Stimme, von der zu sagen genüge, daß sie den ganzen Saal füllt, und die drei Musikanten folgen ihr mühselig Ton um Ton, wobei sie aber meist immer um einen hinterherhinken. So mühen sie sich Strophe auf Strophe durch eines liebeskranken Jünglings wehmutsvolles Scheidelied:
     
    Sudiev’ kvietkeli, tu brangiausis;
    Sudiev’ ir laime, man biednam,
    Matau – paskyre taip Aukszcziausis,
    Jog vargt ant svieto reik vienam!
     
    Nach dem Lied ist es Zeit für die Rede, und es erhebt sich Dede oder Onkel Antanas, der Vater von Jurgis. Obwohl nicht älter als sechzig, wirkt er wie ein Achtzigjähriger. Er lebt noch kein halbes Jahr in Amerika, und die Verpflanzung ist ihm nicht gut bekommen. In seinen Mannesjahren hatte er in einer Baumwollspinnerei gearbeitet, doch dann begann er zu husten und mußte aufhören; draußen auf dem Lande gab sich das Leiden wieder, aber hier arbeitet er bei Durham im Pökelkeller, und die kalte, feuchte Luft, die er dort von morgens bis abends atmet, hat es wiederkommen lassen. Auch jetzt beim Aufstehen schüttelt ihn ein Husten, und er hält sich am Stuhl fest und dreht sein blasses, eingefallenes Gesicht weg, bis der Anfall vorüber ist.
    Normalerweise nimmt man die Veselija-Rede aus einem Buch und lernt sie auswendig. Dede Antanas aber hatte in seiner Jugend einiges gelesen, ja sogar die Liebesbriefe für seine Freunde aufgesetzt, und man merkt, daß er seine Ansprache selber verfaßt, sich die darin enthaltenen Glück– und Segenswünsche allein ausgedacht hat. Dies ist einer der Höhepunkte des Tages. Selbst die kleinen Jungen, die im Saal umhertollen, kommen näher und hören zu, und einige der Frauen schluchzen und wischen sich mit der Schürze die Augen. Es ist sehr zu Herzen gehend, denn Dede Antanas gibt seiner Überzeugung Ausdruck, daß es ihm nicht mehr lange vergönnt sein werde, unter seinen Kindern zu weilen. Seine Worte machen alle so betrübt, daß einer der Gäste, Jokubas Szedvilas, der in der Halsted Street einen Feinkost- und Imbißladen betreibt, kugelrund ist und wie das blühende Leben aussieht, sich bemüßigt fühlt, aufzustehen und zu sagen, so schlimm stehe es ja wohl doch nicht. Und anschließend hält er selbst eine kleine Rede, in der er Braut und Bräutigam überschüttet mit guten Wünschen und Prophezeiungen ehelichen Glücks, von welchem er dann Details anführt, die die jungen Männer sehr ergötzen, Ona aber heftiger denn je erröten lassen. Jokubas hat, was seine Frau wohlgefällig als »poetiszka vaidintuve« bezeichnet – poetische Phantasie.
    Viele der Gäste sind jetzt mit dem Essen fertig, und da nicht auf Etikette gemacht wird, hebt sich die Tafel langsam von allein auf. Einige von den Männern versammeln sich an der Theke, andere schlendern umher, lachen und singen; hier und da stimmt ein Grüppchen ein Lied an, gänzlich unbekümmert um den Gesang der anderen, und auch ohne sich durch die Kapelle stören zu lassen. Alle sind mehr oder weniger unruhig, als stehe gleich etwas bevor. Und richtig: Den letzten säumigen Essern wird kaum Zeit gelassen, ihre Teller zu leeren, als man auch schon die Tische mitsamt den Speiseresten in die Ecke schiebt, die Stühle übereinanderstellt und ebenso die Babies aus dem Weg räumt, denn nun geht erst das richtige Feiern los. Tamoszius Kuszleika kehrt, nachdem er sich mit einem Bier erfrischt hat, auf sein Podium zurück, stellt sich aufgerichtet hin und läßt den Blick prüfend in die Runde gehen; gebieterisch klopft er auf seine Fiedel, klemmt sie dann sorgsam unters Kinn, schwenkt den Bogen mit kunstvollem Schlenker durch die Luft, bringt endlich die Saiten zum Klingen, schließt die Lider und schwebt auf den Flügeln eines verträumten Walzers dahin. Der zweite Geiger fällt mit ein, jedoch offenen Auges, sozusagen aufpassend, wohin der Weg führt, und schließlich schlägt Valentinavyczia, nachdem er etwas gewartet und sich mit dem Fuß in den Takt geklopft hat, die Augen zur Decke empor und beginnt dröhnend zu sägen: »Schrum! Schrum! Schrum!«
    Die Gesellschaft teilt sich rasch in Paare auf, und bald ist der ganze Saal in Bewegung. Richtig Walzer tanzen kann offenbar niemand, aber das macht gar nichts – man hat Musik, und man tanzt, jeder, wie es ihm Spaß macht, genau
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