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Der Dorfpfarrer (German Edition)

Der Dorfpfarrer (German Edition)

Titel: Der Dorfpfarrer (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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sehen. Für alles hatten die Freunde dieser Frau gesorgt, denn der Salon war ausschließlich nur von den Leuten des Hauses besetzt. Vorn und vor ihrer Zimmertür gruppiert befanden sich die Freunde und Leute, auf deren Verschwiegenheit man rechnen konnte. Monsieur Grossetête, Roubaud, Gérard, Clousier, Ruffin waren in der ersten Reihe. Alle sollten sich erheben und stehenbleiben, um so zu verhindern, daß die Stimme der Beichtenden von anderen außer von ihnen gehört würde. Es gab übrigens noch einen glücklichen Umstand für die Sterbende: die Seufzer ihrer Freunde erstickten ihre Geständnisse. An der Spitze von allen boten zwei Personen ein furchtbares Schauspiel. Die erste war Denise Tascheron: ihre ausländische Kleidung von quäkerischer Einfachheit machte sie für alle Dorfbewohner, die sie erblicken konnten unkenntlich; für jene andere Person aber war sie eine schwer zu vergessende Bekanntschaft, und ihre Erscheinung wirkte wie eine furchtbar aufdämmernde Erkenntnis. Der Generalprokurator sah die Wahrheit; die Rolle, welche er bei Madame Graslin gespielt hatte, erriet er in ihrer ganzen Ausdehnung. In seiner Eigenschaft als Kind des neunzehnten Jahrhunderts weniger als die anderen von der religiösen Frage beherrscht, empfand der Gerichtsbeamte einen wilden Schrecken im Herzen, denn nun konnte er das Drama von Véroniques innerem Leben im Hôtel Graslin während des Tascheronprozesses betrachten. Diese tragische Epoche stand wieder lebendig in seiner Erinnerung, aufgehellt durch die beiden Augen der alten Sauviat, die vom Hasse entfacht, wie zwei Strahlen geschmolzenen Bleis auf ihn fielen. Die zehn Schritte vor ihm stehende alte Frau verzieh ihm nichts. Den Mann, der die menschliche Gerechtigkeit vorstellte, überkam ein Schauder. Bleich, in sein Herz getroffen, wagte er nicht die Augen auf das Bett zu richten, wo die Frau, die er so sehr geliebt hatte, bleifarbig unter des Todes Hand ihre Kraft, um den Todeskampf zu bändigen, eben aus der Größe ihres Fehls sog; und Véroniques hartes Profil, das sich weiß von dem roten Damast abhob, machte ihn schwindlig. Um elf Uhr begann die Messe. Als die Epistel vom Pfarrer aus Vizay gelesen worden war, legte der Erzbischof seine Dalmatika ab und stellte sich auf die Türschwelle.
    »Ihr Christen, die ihr hier versammelt seid, um der Feierlichkeit der letzten Oelung beizuwohnen, die wir an der Herrin dieses Hauses vornehmen wollen,« sagte er, »ihr, die ihr eure Gebete mit denen der Kirche vereinigt, um euch bei Gott für sie zu verwenden und ihr ewiges Heil zu erlangen, vernehmt, daß sie sich nicht für würdig befunden hat, in dieser letzten Stunde die heilige Wegzehrung zu erhalten, ehe sie nicht zur Erbauung ihres Nächsten die öffentliche Beichte des größten ihrer Vergehen abgelegt habe. Wir haben uns ihrem frommen Verlangen widersetzt, obwohl dieser Akt der Reue lange Zeit über in den ersten Tagen des Christentums üblich gewesen ist; da diese arme Frau uns aber gesagt hat, daß es sich dabei um die Ehrenrettung eines unglücklichen Kindes des hiesigen Pfarrsprengels handle, stellen wir es ihr frei, den Eingebungen ihrer Reue Folge zu leisten.«
    Nachdem der Erzbischof diese Worte mit einer salbungsvollen seelenhirtlichen Würde geäußert hatte, wandte er sich um, um Véronique Platz zu machen. Die Sterbende erschien von ihrer alten Mutter und dem Pfarrer, zwei großen und verehrungswürdigen Gestalten gestützt: erhielt sie ihren Leib nicht von der Mutterschaft, ihre Seele von ihrer geistigen Mutter, der Kirche? Auf einem Kissen ließ sie sich auf die Knie nieder, faltete ihre Hände und sammelte sich einige Augenblicke, um in sich selber, in einem vom Himmel ausgegossenen Quell die Kraft zum Sprechen zu schöpfen. In diesem Moment hatte das Schweigen etwas unsäglich Erschreckliches. Niemand wagte seinen Nachbar anzusehen. Aller Augen waren gesenkt. Als Véroniques Blick indessen, da sie die Augen erhob, dem des Generalprokurators begegnete, ließ sie der Ausdruck dieses bleich gewordenen Gesichtes erröten.
    »Ich würde nicht in Frieden sterben,« sagte Véronique mit erregter Stimme, »wenn ich in jedem von euch, die ihr mich hört, das falsche Bild, das er sich von mir hat machen können, zurückließe. Ihr seht in mir eine große Verbrecherin, die sich euren Gebeten empfiehlt und sich der Verzeihung durch das öffentliche Geständnis ihres Fehls würdig zu machen sucht. Dieser Fehl war so schwer, er hatte so verhängnisvolle Folgen, daß
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