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Der Codex

Titel: Der Codex
Autoren: Douglas Preston
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Verkündigungsszene. Dann kamen Bronzinos Porträt der Bia de Medici, zwei r ö mische Statuen, noch ein paar Picassos, ein Braque, zwei Modiglianis, ein Cezanne und weitere Statuen: Grabbeig a ben aus dem 20. Jahrhundert. Die bizarre Prozession schritt den Hügel hinauf und verschwand dann im Hain.
    Ganz am Ende kam - wenn man es denn so bezeichnen wollte - das Orchester: eine Gruppe von Männern, die Flöte spielten, lange Holztrompeten bliesen und Stöcke aneina n der hauten. Den Abschluss bildete ein Junge, der mit aller Kraft auf eine schäbige, vermutlich aus den USA stamme n de Basstrommel schlug.
    Tom empfand eine starke Mischung aus Trauer und Lä u terung. Eine Ära war zu Ende gegangen. Sein Vater war tot. Er musste sich nun endgültig von seiner Kindheit vera b schieden. Es wurden Gegenstände an ihm vorbeigetragen, die er kannte und gern hatte; Gegenstände, mit denen er aufgewachsen war. Auch sein Vater hatte sie geliebt. Als die Prozession die Gruft erreichte, wurde alles - die Me n schen wie die Grabbeigaben - von der Dunkelheit ve r schluckt. Dann kehrten die Leute blinzelnd und mit leeren Händen ins Freie zurück. Die Sammlung seines Vaters würde bis zu dem Tag, an dem er und seine Brüder wi e derkämen, um ihr Eigentum zu beanspruchen, sicher, tro c ken verwahrt und beschützt sein. Die Maya-Schätze wü r den natürlich für immer in der Kammer bleiben, damit Maxwell Broadbent im Jenseits ein schönes und glückliches Leben führen konnte. Doch die aus den westlichen Lä n dern stammenden Schätze gehörten ihnen und wurden vom Volk der Tara bewacht. Die Beisetzung suchte ihresgle i chen. So waren bisher nur Maya-Herrscher bestattet wo r den, und selbst das war tausend Jahre her.
    Drei Tage nach der Unterzeichnung des Testaments war Maxwell Broadbent g e storben. Ihm war nur noch ein Tag geblieben, dann hatte sein Geist sich verwirrt, und er war ins Koma gefallen und verschieden. Toms Ansicht nach gab es zwar grundsätzlich keinen schönen Tod, doch der seines Vaters war irgendwie würdevoll gewesen, falls man dieses Wort überhaupt verwenden wollte. Er selbst würde sich eher an den letzten klaren Tag seines Vaters als an seinen Tod erinnern.
    Sie waren alle bei ihm gewesen. Sie hatten nicht viel ger e det, und wenn sie übe r haupt etwas gesagt hatten, dann war es um Kleinigkeiten gegangen: um irgendwelche unwicht i gen Begebenheiten, vergessene Orte, lustige Ereignisse und Menschen, die längst nicht mehr lebten. Trotzdem war di e ser Tag der Plaudereien für sie wer t voller gewesen als all die Jahrzehnte wichtiger Gespräche über vermeintlich Gr o ßes: die Standpauken, die väterlichen Ermahnungen, die Ratschläge, die Philosophiererei und die Tischgespräche. Nach einem Leben des Aneinandervorbeiredens hatte Maxwell Broadbent sie endlich verstanden und sie ihn. Nur deswegen hatten sie aus reinem Spaß an der Freude so u n beschwert daherreden können. So einfach und doch auch so tiefsinnig war die Sache.
    Tom lächelte. Die Bestattung hätte seinem Vater gefallen. Er hätte diese beeindr u ckende Prozession durch den Wald gern gesehen: die riesigen dröhnenden Hol z trompeten, die Trommelwirbel, die Bambusflöten, die abwechselnd si n genden und klatschenden Männer und Frauen. Man hatte eine große Kammer in den Fels gehauen und eine neue T o tenstadt für das Volk der Tara aus der Taufe gehoben. Die Weiße Stadt war ihnen wegen der abgebrannten Brücke ja nicht mehr zugänglich. Sechs von Hausers Söldnern waren dort zurückgeblieben. In den sechs Wochen, die die Baua r beiten der neuen Gruft in Anspruch nahmen, hatte es im Dorf täglich neue Nachrichten über die gefangenen Sold a ten gegeben: Hin und wieder kamen sie an den Brücke n kopf, feuerten ihre Waffen ab und riefen, flehten und dro h ten. Im Laufe der T a ge und Wochen waren aus den sechs Männern vier geworden, dann drei, dann zwei. Jetzt war nur noch einer da, aber er schrie und winkte nicht mehr und gab auch keine Schüsse mehr ab. Er stand nur da, eine kleine, ausgemergelte, schweigende Gestalt, die auf den Tod wartete. Tom hatte die Tara zu überreden versucht, den Mann zu retten. Aber sie hatten sich hart gezeigt: Nur die Götter konnten eine neue Brücke bauen. Wenn sie ihn retten wollten, würden sie es schon tun.
    Aber natürlich hatten sie es nicht getan.
    Das Dröhnen der Basstrommel lenkte Toms Gedanken wieder auf das gegenwärt i ge Schauspiel. Nun, da sämtliche Grabbeigaben in der Gruft gestapelt waren, wurde
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