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Der Clown ohne Ort

Der Clown ohne Ort

Titel: Der Clown ohne Ort
Autoren: Thomas Martini
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internationale Organisation gründen, die irgendwie basisdemokratisch legitimiert wird und sich mit aktuellen politischen Themen auseinandersetzt. Das Ganze wird erst über das Internet lanciert, kurz- bis mittelfristig durch EU-Mittel gestützt und später mithilfe eines eigenständigen Verlages zu einer politischen Bewegung vergrößert.« ON sollte der Verlag heißen, als Abkürzung für Original Nobodies. Es war kein allzu schlechter Name, aber auch kein allzu guter. Naïn weiß nicht, was er davon halten soll, schließlich studierte Chris an der ENA, da war Größenwahn ja schon eine Option. Er lässt sich weiter berieseln, fällt schäkernd in den Rausch, Chris’ verfrühtes Angebot zu übernachten kommt gelegen, er legt gleich noch eine Runde aus. So geht es.
    Naïns Gedanken streunen verloren in der Gasflamme, die unter der gusseisernen Pfanne brennt. Chris sagt, er bereite ein kolumbianisches Katerfrühstück zu, also Rührei mit Knoblauch, Zwiebeln, Tomaten und Koriander. Daneben dampft und zischt die Kaffeekanne. Er faselt weiter von seinem Projekt – es waren also nicht nur Koks und Alkohol gewesen.
    »So nebenbei im Alleingang die Gesellschaft revolutionieren!?«, fragt Naïn.
    »Ich will doch gar keine Revolution! Ich will einfach eine rapidere Evolution!«
    »Hast du’s eilig?«
    »Darum geht es ja gerade. Guck dir die Welt doch an! Da ist nichts mehr mit Geduld.« Chris stellt die Kaffeekanne vom Herd, schlägt acht Eier über das angedünstete Gemüse und verrührt das Ganze.
    »Wenn du dir die Zuspitzung der Krisen, die Umweltzerstörung ansiehst – also wenn man nachts im Flugzeug sitzt und unter sich die Städte glitzern sieht, das alles erinnert an miteinander verwobene Krebszellen, weißt du, was ich meine? Gerade dann sieht man, wie weit wir uns von der Natur entfernt, sie zerstört haben. Ich weiß, dass es keinen Weg zurück gibt, deshalb Evolution und nicht Revolution. Ich will nichts zerstören. Ich will kreativ sein, etwas Positives machen, ich will eine Alternative zu diesem Untergangsszenarium kreieren, von dem sie uns die ganze Zeit erzählen.«
    »Wirf deinen Fernseher weg!«
    »Witzbold. Wie gesagt, ich werde eine Gruppe mit fähigen Leuten gründen, die ein gesundes Mindestmaß an Größenwahn besitzen. Ich will keinen Durchschnitt, kein Mittelmaß, das Größe als Krankheit bezeichnet. Deshalb habe ich dich ja auch angerufen!« Was will der? Irgendwie fühlt sich Naïn weder größenwahnsinnig noch gesund. Und nach all dem, was Chris erzählt, bedeutet das Stress, und davon hat er mehr als genug.
    »Außerdem habe ich im Internet etwas von dir gefunden, das mir ausgezeichnet gefällt!« Jetzt drehte er also endgültig durch.
    »Kannst du mal kurz auf das Rührei aufpassen, ich hol kurz was aus meinem Zimmer.« Naïn spickt von seinem Stuhl aus in die Pfanne und stellt die Flamme ab. Chris kommt mit einem dünnen Papierstapel in der Hand zurück und reicht ihn Naïn.
    Bedingungsloses Grundeinkommen. Fairer Kapitalismus? steht drauf. Einer seiner schlechteren Essays. Er hatte ihn im dritten Semester in knapp zwei Tagen schwer wikipedelnd fabriziert und einem Blog, der den Jusos nahestand, geschickt.
    »Das ist nicht dein Ernst, oder?!«
    »Natürlich ist dein Text nicht das große Ding. Ich finde ihn als Arbeitsgrundlage aber total interessant.«
    Jetzt trudeln auch endlich die Mädels halbnackt in die Küche. Cécile setzt sich wie selbstverständlich oben ohne an den Küchentisch. Naïn legt den Papierstapel zur Seite und lässt sich Essen und Ausblick schmecken.
    »Was für ’ne Arbeitsgrundlage?«, fragt Louise.
    »Dein schöner Busen.«
    Sie streckt Chris die Zunge raus und greift nach der Zigarettenpackung, die auf dem Tisch liegt. »Wo ist der Aschenbecher?«
    »Unter dem Stapel.«
    » Bedingungsloses Grundeinkommen. Fairer Kapitalismus? Was ist das?«
    »’ne Arbeit von Naïn, die er vor ’n paar Jahren geschrieben hat. Kannst gerne reingucken«, sagt Chris gönnerhaft. Und dann fängt sie tatsächlich an, rauchend vorzulesen.
    »Ich hab da jetzt echt keinen Bock drauf!«, protestiert Naïn noch, zu spät:
    Der Hauptantrieb, aus dem Menschen einer Veränderung ihrer Verhältnisse zustimmen, ist das Versprechen einer Verbesserung ihres Daseins. Zwar sind Menschen durchaus bereit, für in der Zukunft liegende Erfüllung dieser Ideale und Hoffnungen kurzfristige Einschränkungen hinzunehmen, und tun dies real nicht selten über Generationen hinweg, doch ein Fortleben der
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