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Der Clown ohne Ort

Der Clown ohne Ort

Titel: Der Clown ohne Ort
Autoren: Thomas Martini
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geweckten Hoffnungen ist von den bestorganisierten politischen, ökonomischen und sozialen Apparaten kaum zu verhindern. Eines dieser großen Versprechen war das des fortschrittsbasierten Kapitalismus: den Menschen in ob naher, ob ferner Zukunft von dem (körperlichen) Arbeitszwang zu befreien, weniger stark formuliert, zumindest die Plagen des Lebens bestmöglich zu mindern – übrigens das Versprechen noch jeder staatlichen Organisationsform.
    »Jetzt hör doch auf mit dem Scheiß!«, sagt Naïn. Louise will wohl weiterspielen, denkt er, als sie kurz von den Blättern aufblickt, ihn demonstrativ mitleidig angrinst und weiterliest. In »Die Dialektik der Aufklärung« schrieb Adorno, es gehe um die »Einlösung der vergangenen Hoffnungen«, die der Kapitalismus versage. Über Jahrzehnte schien er in den westlichen Gesellschaften dieses Versprechen mehr oder weniger halten zu können, zumindest auf dem Weg zu sein, es zu erfüllen. Er ermöglichte einem Großteil der Bevölkerung die Teilhabe an der wachsenden Wertschöpfung seiner Wirtschaft.
    Ende des 20. Jahrhunderts schien das Unternehmen erneut ins Stocken zu geraten. Manifest wurde die scheinbare Krise in einem Arbeitslosensockel, der das Ziel der Vollbeschäftigung und damit Teilhabe aller Bevölkerungsschichten am Fortschritt im engen, subjektiven Sinne der Betroffenen als Farce zu entlarven drohte.
    Zu Beginn des Neuen scheint dies endgültig der Fall zu sein: Seit Jahren schon droht die anhaltende Massenarbeitslosigkeit und Prekarisierung weiter Bevölkerungsschichten zum sozialen Sprengstoff zu werden. Der Staatsaufbau scheint nicht mehr zu den neuen Gegebenheiten zu passen, antikapitalistische Strömungen, ob von rechts oder links, erneuern sich in einem diffusen Nebel der Lethargie, nachdem das Ende der Utopien beschworen wurde.
    Louise drückt ihre Zigarette aus. Sie liest den Text jetzt konzentrierter, ernster vor. Chris sitzt nickend, in sich gekehrt am Tisch und pickt lustlos in seinem Essen rum, Cécile und Marianne starren ebenfalls in ihre Teller. Die politische Agenda der in sich gekehrten Knoblauch- und Zwiebelsalonfraktion, denkt Naïn listig. Ihm ist langweilig. Er zieht an der Kippe, tief, besser vorwärts fallen, besser ist, denkt er, Land der Jugend, irdische Paradiese, tief im Westen, weit weg, Vögel, Blätter, der Wind
    »Ziel erreicht – interessengeleitet verschwiegen – Theaterstück – Pointen zu Liebe tragikomisch vorbeitänzeln – steuerfinanziert – Zigarette? Kritik, Option, Evolution, John Rawls und Differenzprinzip,«
    »Wer ist dieser John Rawls?«, fragt Cécile.
    »es hält nur bedingt stand.«
    »Das war ein amerikanischer Philosoph, der in den Siebzigern groß rauskam – sein Buch hieß Eine Theorie der Gerechtigkeit . Er beschreibt einen Naturzustand, in dem die Menschen hinter einem Schleier des Nichtwissens die Grundsätze einer gerechten Gesellschaft entwickeln. Im Grunde sagt er nur, dass die Menschen darin einerseits die Gleichheit der Grundrechte wählen und andererseits, dass soziale oder wirtschaftliche Ungleichheiten nur gerechtfertigt sind, wenn sich daraus für jeden Vorteile ergeben, besonders für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft.«
    »Hört sich interessant an.«
    »Das ist es auch!« Chris hatte das alles mit der stolz glänzenden Geste eines kleinen Kindes aufgesagt, das seiner Oma ein auswendig gelerntes Gedicht »Ganz, ganz toll!« vorgetragen hat.
    »Wollt ihr das jetzt echt zu Ende lesen?« Naïn hat keine Lust, sich mit drei halbnackten Frauen …
    »Ich will aber!«, protestiert Louise dummdreist lächelnd. Ihm wird das zu blöd. »Ich geh duschen«, sagt er.
    Als er aus dem Bad zurückkommt, liest Louise den letzten Absatz. Er stellt sich daneben und bastelt einen Joint.
    erfüllt also mehr Bedingungen des Differenzprinzips als das jetzige System. Es bleibt allerdings ein Hilfskonstrukt: als Ergebnis der letzten etwa zwei Jahrhunderte, in denen sich die Industrialisierung entspann, scheint es gerecht, ändert man den geschichtlichen Fokus, bleibt es die Kompensation einer sukzessiven Enteignung. Mit Adornos Worten: »Der Strahl, der in all seinen Momenten das Ganze als das Unwahre offenbart, ist kein anderer als die Utopie, die der ganzen Wahrheit, die erst noch zu verwirklichen wäre.« – Das Letzte, was ein Grundeinkommen zu sein vermag, ist diese Utopie.
    Pathetisch hatte er also aufgehört. Er zündet die Tüte an und ist bei Afrika und Soma, Marilyn Monroe in ihrem
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