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Der Clown ohne Ort

Der Clown ohne Ort

Titel: Der Clown ohne Ort
Autoren: Thomas Martini
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Lufthauch, ihn aus seiner Raserei zu wecken. Der dreht sich um, mit erhobener rechter Faust, aus der es metallisch blitzt, Hassfratze, Naïn fährt zurück, schreit lauter, Letztes, Wahnsinn, Animalisches, Aller-, Allerletztes direkt in sein Gesicht, die drei schauen sich an, was gibt’s da zu klären verdammt! – sie rennen los. Auf dem weißen Pullover des am Boden Liegenden wachsen fünf, sechs, sieben, keine Ahnung, wie viele, einfach viel zu viele Blutblüten zu einem Bild des Grauens. Aus seiner Nase rinnt das Rote auf den Asphalt, sie scheint gebrochen. Er rappelt sich auf, »Alles okay?«, fragt Naïn bescheuert. Der wankt, hat Koordinationsschwierigkeiten, schwer betrunken sieht das aus, winkt ab und geht in die gleiche Richtung wie die Asiaten. Der will doch nicht etwa weiterkämpfen?, wundert sich Naïn, wo ist B? Sie läuft auf ihn zu, er wird schon seine Gründe haben, denkt Naïn klarer, vielleicht in der dumpfen Hoffnung, nichts weiter mit der Sache zu tun haben zu müssen. Illegaler oder vielleicht irgend’n schräges Ding, besser ohne Polizei – »Soll ich einen Krankenwagen rufen?«, heisert er ihm sicherheitshalber hinterher, ein zweites Mal winkt der nur ab, stolpert seinen Angreifern nach, sein Pullover jetzt mehr rot als weiß. Herbstruhe in Dahlem.
    »Passe passe le oinj, lass uns mal gehen, besser, wir haben nichts mit der Polizei zu tun, nicht wahr?«, sagt B und zieht ihn am Oberarm in eine Seitenstraße. Dada ist ihm grad zu viel, Nique Ta Mère / NTM, Nique la Police, La Haine, Knowledge Reigns Supreme Over Nearly Everyone, Sound of da Police, Edith Piaf, sie wird die Übertreibung schon nicht böse gemeint haben, ihm zittert, summt und basst im Kopf: Non! Rien de rien! Non! Je ne regrette rien, DJ Cut Killer.
    Zwei Minuten später sind sie an der U 3, Breitenbachplatz, ihm dämmern Studienzeiten an der Freien Universität. Lange her, denkt er, das Otto-Suhr-Institut, Professor R, grübelt Naïn noch, da fährt auch schon die gelbe Schlange quietschend ein. Angezischt hatte sie ihn, die R, Leute wie ihn könne man hier nicht gebrauchen, meinte die R, man habe schon so seine Erfahrungen mit Leuten wie ihm, drohte die R, sie würde das ans Prüfungsbüro weiterleiten. Sirenen heulen, Türen klappen, die Bahn fährt los. Zwanzig Minuten blökte sie so weiter, Durchzug, dann hatte er genug und fuhr ihr in die Parade. Weitere fünfunddreißig zu lange Minuten ruderte sie zurück, er hatte sich leise gewundert, hörte Erklärungen, Gründe und Beteuerungen, war längst woanders, sie ihm peinlich, so viel zum Thema Politik und Europaparlament, richtig fühlte sich das nicht mehr an. Er zittert, von den Knien her kommt das. Doch ein Schock also, er setzt sich hin, »Rüdesheimer Platz«, krächzt die hohle U-Bahn-Stimme, ihm ist neblig. B bereitet im Stehen die zweite Mischung vor, America Libre wird er das jetzt nennen, denkt Naïn, neben ihm liest ein Student Spiegel, apokalyptisches Titelbild, Krise allenthalben, wir kennen nichts anderes mehr, zum Krisenreiter und Paradiesfinder werde ich, kann doch nicht sein, dass wir ständig unglücklich sind, ohne Aussicht auf Veränderung nur noch bedröhnt die Realität ertragen, will gegen die Negative einer überbelichteten, falsch fotografierten Welt strahlen, nicht mehr stillhalten, gebannt auf den finalen Schuss warten, will nicht, kann nicht, muss was tun, er packt den Flachmann aus und trinkt die letzte Hälfte in einem Zug leer. Verständnisfaul, verschwörerisch guckt B ihn an, da sind wir uns nicht einig, da wirklich nicht, denkt er abschätzig, in den Boden starrend, tief hinein in die Leere. Leg dich in den Gedankenstrudel, schlafe, laufe die Peripherie ab, lerne sie kennen und dann spring ganz weit hinein ins Netz, in die Mitte, hoch wird es dich federn, durchsichtig, fidel, heiter, weich wirst du zum Liegen kommen. Heidelberger Platz, sie steigen aus, sonnengelb der Leitstreifen am Bahnsteigrand, wie nah die Schienen sind, »Du brauchst Ablenkung, mein Lieber, bist mir ’n bisschen bleich«, die Bahn fährt los, das Zugende schwappt ihn mit, ich könnte fallen! Jetzt!, da zieht ihn B irgendwohin, das Gerade braucht er nicht, klargroß belettert denkt er, Böses schreit schön nach ihm, B, du bist, hinter dir her, wie vernünftig … mir fehlt das Sinnbild.

Vor ihm steht Lucard, Vampiraugen hat der, beinglasig die Pupillen, neben ihm die überspannte Lana: Raucherstimme schon mit Mitte zwanzig, irischrotes Haar hochgesteckt,
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