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Der Blutfluch: Roman (German Edition)

Der Blutfluch: Roman (German Edition)

Titel: Der Blutfluch: Roman (German Edition)
Autoren: Marie Cristen
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Flucht vor Kälte und Nässe, in den undichten Behausungen zusammen.
    Jetzt im Juni waren die Nächte im Deutschen Reich warm und kurz. Es lohnte der Mühe nicht, auch nur ein Zelt aufzubauen. Das hatte zudem den Vorteil, dass sie, sollten sie Hals über Kopf aufbrechen müssen, im Handumdrehen verschwinden konnten.
    An das Weiterziehen dachte Aliza ohnehin nicht gerne. In der Stadt sprach man davon, dass die Feiern mindestens eine Woche dauern würden. Danach würde es bestimmt noch weitere Zeit in Anspruch nehmen, bis alle Festgäste endgültig abgereist waren. Erst dann würden sich die Ratsherren wieder auf den Alltag in ihren Mauern besinnen.
    Als Erstes verwies man dann wie üblich das fahrende Volk der Stadt. Danach folgten die Spielleute und Gaukler, dann die zwielichtigen Wanderhändler und Quacksalber, manchmal auch ein Teil der jüdischen Bevölkerung. Keiner dieser Ausgewiesenen konnte auf einen Fürsprecher unter den ansässigen Bürgern hoffen.
    »Warum können wir nirgends bleiben?«
    Immer wieder hatte sie als Kind ihrer Mutter diese Frage gestellt und stets die gleiche Antwort erhalten.
    »Weil nirgends unser Zuhause ist.«
    Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden. Was sie jedoch nicht begriff, war die stoische Gelassenheit, mit der alle Frauen und Männer des Stammes es hinnahmen. Die Zufriedenheit, mit der sie sich trotz allem auf den Weg machten, zum nächsten Jahrmarkt, zum nächsten Mysterienspiel, zum nächsten Kirchsprengel, wo man von den dunkelhäutigen Fremden wieder nichts wissen wollte, war ihr unverständlich. Anfangs hatte sie dieser Gleichmut erstaunt, danach verwundert. Inzwischen begehrte sie leidenschaftlich dagegen auf.
    Wer gab den Menschen das Recht, sie immer und immer fortzujagen? Waren nicht auch die Tamara Kinder des einen, großen Gottes? Weshalb verweigerte er ihnen eine Heimat? Was hatten sie verbrochen, um so gestraft zu werden?
    Tibos Stimme ließ sie unweit des Wagens verharren. Brummig drang sie durch die Holzwand. Alles Zögern hatte nichts genutzt. Die Eltern erwarteten sie, und wie es sich anhörte, lagen sie miteinander im Streit. In letzter Zeit schienen sie sich über gar nichts mehr einig zu sein. Aliza zog sich in den Schatten zurück und lauschte ängstlich. Solange Leena und Tibo sich anbrüllten, hielt sie sich besser im Verborgenen. Die Auseinandersetzung wurde lauter, mühelos verstand sie jedes Wort.
    »Schluss mit diesem Gejammer, Leena. Lange genug habe ich mich von dir beschwatzen lassen. Milosh wird deiner Tochter ein guter Mann sein und ihr die Launen austreiben. Ich verlange Frieden in der Sippe. Wir können uns diese ständige Rivalität unter den jungen Männern nicht länger leisten. Am Ende kommt es noch zu einer Fehde, die unsere Sippe schwächt.«
    Eine Heirat? Zwischen Milosh und Sizma?
    Aliza wusste, dass die Schwester den Fiedler um jeden Preis zum Mann haben wollte. Milosh tat ihr heute schon leid. Sizma würde dem sanftmütigen und hilfsbereiten Jungen auf der Nase herumtanzen. Sah der Vater denn nicht, dass die Schwester eine feste Hand benötigte? Lehnte sich die Mutter deswegen gegen seinen Befehl auf?
    »Du willst bloß Frieden, weil Sizma dir ununterbrochen in den Ohren liegt. Ihr heißes Blut verlangt nach Leidenschaft. Sie ist vom gleichen Schlag wie ihre mannstolle Mutter. Auch Danitza hat sich jedem Kerl an den Hals geworfen und sich nie um die Folgen gekümmert.«
    »Musst du die alten Geschichten aufwärmen? Danitza ist tot. Hab ich dich, seit wir Sizma zu uns genommen haben, jemals betrogen? Im Gegenteil, eine zweite Tochter hab ich dir geschenkt. Dankbar solltest du sein, nicht nachtragend wie ein Esel.«
    Aliza stockte der Atem. Verstand sie das richtig? War Sizma nur ihre Halbschwester? Empfand sie deshalb so wenig geschwisterliche Liebe für sie? Ohne Gewissensbisse schlich sie näher zum Wagen. Kein Wort des Streits wollte sie mehr versäumen. Was hatten sie ihr noch alles verschwiegen?
    »Du weißt, dass deine Mutter den Tod in den Karten gesehen hat«, warnte Leena soeben. »Zwing Aliza nicht zur Heirat mit einem Tamara. Nur wenn sie frei unter uns lebt, ist die Sippe in Sicherheit. Nichts wird so sein wie früher, wenn du das Schicksal gewaltsam veränderst.«
    »Weibergeschwätz.«
    »Besinne dich, Tibo. Du stürzt uns ins Unglück!«
    Je mehr Aliza hörte, desto weniger verstand sie. Fast konnte sie Tibos Ärger nachvollziehen. Dass Großmutter oft in Rätseln sprach, hielt sie ihrem Alter zugute, dass die Mutter
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