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Der Blutfluch: Roman (German Edition)

Der Blutfluch: Roman (German Edition)

Titel: Der Blutfluch: Roman (German Edition)
Autoren: Marie Cristen
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Ein solches Mal bringt Tod und Verderben für alle, die mit dem Kind in Berührung kommen.«
    Sie riss die Tücher auseinander, und das Wimmern wurde prompt zum Kreischen. Mit Händen und Füßen wild fuchtelnd, schrie das Neugeborene aus voller Brust.
    Leena konnte kein Mal entdecken, das den Kindskörper entstellte. Im Gegenteil: Die Haut des Kindes schimmerte wie die Blüte einer Christrose. Den Kopf bedeckte silbriger Flaum, die Augen blickten klar. Es war ein Mädchen, zart, aber hungrig und mit kräftiger Stimme.
    »Ich sehe kein Mal. Was ich sehe, ist lediglich, dass deine Tochter friert und vor Durst weint«, antwortete sie ruhig. »Halte sie warm und gib ihr zu trinken. Ich versichere dir, danach wird es auch dir bessergehen. Ihr müsst jetzt füreinander da sein.«
    »Und was ist das?«
    Die Mutter ergriff ihr Kind um die Körpermitte und zog die Decke von seinem bloßen Rücken. Haltlos sank das Köpfchen gegen ihre Schulter. Im Nacken, am Ende der zerbrechlichen Wirbelsäule, wies die Haut eine deutlich sichtbare Verfärbung auf.
    Leena trat neugierig näher. Der Mond enthüllte die fremdartigen Zeichen auf ihren Wangenknochen. Erschrocken wich die junge Mutter zurück.
    »Du gehörst zu den Ägyptern, die vor dem Stadttor lagern. Zu den Zauberern«, stammelte sie. »Du willst mein Kind. Man erzählt sich hinter vorgehaltener Hand von euren heidnischen Ritualen und Opfern.«
    Ausgerechnet einer Selbstmörderin, die ihr Kind mit in den Tod nehmen wollte, den Aberglauben ausreden zu wollen war fast zu viel für Leena.
    »Ich will dir nur helfen. Es ist Unsinn, was sie über uns erzählen. Wir sind weder Ägypter noch Zauberer. Unsere Sippe gehört zum Volk der Tamara, und wir tun keinem Menschen etwas zuleide. Schon gar nicht unschuldigen Kindern. Im Gegenteil, unsere Heilerin kann …«
    »Lass mich! Ich glaube dir kein Wort.«
    Obwohl sie die ablehnende Reaktion nicht überraschte, hätte Leena die Verzweifelte am liebsten geschüttelt, um sie zur Vernunft zu bringen. Welches Argument konnte sie nur überzeugen?
    »Denk an deine Mutter. Hat sie dich nicht mit Liebe umsorgt und dich vor Bösem bewahrt? Nimm dir ein Beispiel an ihr.«
    »Und wie schlecht habe ich meiner Mutter diese Liebe gedankt!«
    Leena hatte ins Schwarze getroffen. An der Brückenmauer brach die Verzweifelte in Ströme von Tränen aus. »Ich habe meine Familie entehrt und meiner Mutter das Herz gebrochen. Onkel Eléazar hat mir die Tür gewiesen. Er sagt, er duldet keine Hure unter seinem Dach.«
    »Erzähl mir davon«, ging Leena auf die Fremde ein. »Auch die ärgste Last wird leichter, wenn man sie teilt.«
    »Das wirst du nicht mehr sagen, wenn du die Wahrheit kennst …«
    Nicht alles, was das Mädchen überstürzt und unzusammenhängend hervorsprudelte, verstand Leena. Teils, weil sie die Sprache der Gegend nicht gut genug beherrschte, teils, weil ihr Schluchzen manche Sätze verstümmelte. Dennoch konnte sie sich die Tragödie schnell zusammenreimen. Adeliza war die Tochter eines angesehenen Magistrats in Besançon. Sie hatte den Liebesschwüren eines jungen Ritters vertraut, der sie umworben und danach verlassen hatte. Entehrt und schwanger war sie zurückgeblieben, der Schande und der allgemeinen Verachtung preisgegeben. Weder die kranke Mutter noch der strenge Onkel, der die Vaterstelle an ihr vertrat, fanden sich bereit, die Sünde zu verzeihen. In ihrer Bedrängnis sah sie nur einen Ausweg. Den Fluss.
    »Sie allein ist an allem schuld!« Adeliza streckte das winzige Kind mit solchem Abscheu von sich, dass Leena fürchtete, sie würde es fallen lassen. »Der Teufel hat die Saat in meinen Schoß gepflanzt, um mich für meine Sündhaftigkeit zu bestrafen. Das Mal im Nacken beweist es. Ihr Blut ist verflucht!«
    »Wer hat dir so etwas eingeredet? Viele Kinder kommen mit einem solchen Mal zur Welt. Es hat nichts zu besagen, es verblasst im Laufe der ersten Lebensjahre.«
    »Du lügst.« Adelizas Stimme überschlug sich in Hysterie. »Wir sind verflucht, mein Kind und ich. Die Hölle wartet auf uns.«
    Alles geschah zur selben Zeit.
    Leena erfasste sofort, was Adeliza im Sinn hatte. Tollkühn warf sie sich halb über die Mauer, um zu verhindern, dass das Kind mit der Mutter in die Tiefe stürzte. Im letzten Moment erhaschte sie ein Füßchen, aber sie verlor das Tuch dabei, das das Neugeborene notdürftig vor der Nachtkälte geschützt hatte. Fahl segelte der Stoff in die Tiefe. Auf keinen Fall durfte sie dieses erbärmlich dünne
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