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Der Blumenkrieg

Der Blumenkrieg

Titel: Der Blumenkrieg
Autoren: Tad Williams
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Zeltreihen verschwunden war, dahinter Stracki Nessel, der ihr folgte wie ein Storch einer Zwergbulldogge, die er fälschlich für seine Mutter hält. Der Goblin kniff die Augen zusammen und blickte Theo beinahe schüchtern an. »Du hast ihn gestern abend gesehen. Wie war er?«
    Es dauerte ein paar Sekunden, bis Theo verstand, und mit dem Verstehen kam auch der Schmerz wieder. »Ich weiß nicht so recht, ob ich im Augenblick darüber reden möchte.«
    Kleiderhakens Krallenfinger schlossen sich um Theos Arm – sanft, aber mit genug Nachdruck, um Theo merken zu lassen, daß er niemals im Ernst von dem Goblin gepackt werden wollte. »Bitte.«
    Er sah die Szene wieder vor sich, wie dieser kleine Kerl sich auf dem Boden des Elyseums wand, nachdem er richtiges Gift geschluckt hatte, um die Durchführung von Knopfs verwegenem Plan zu ermöglichen. Ein verwegener Plan, der tatsächlich aufgegangen ist, erinnerte Theo sich bewundernd. »Er war … gut gelaunt. Sehr gut gelaunt, wenn man bedenkt, was … was ihn erwartete. Wir haben uns über die ganzen Ereignisse unterhalten. Er bat mich, ihm Geschichten aus meiner Welt zu erzählen.«
    Kleiderhaken hatte den Blick wieder niedergeschlagen. »Die Geschichten würde ich eines Tages gern mal hören.«
    Aber dann werde ich nicht mehr hier sein, dachte Theo. Doch er sagte: »Ich hoffe, daß sich die Gelegenheit dazu ergibt. Hast du ihn persönlich gekannt?«
    »Nicht gut. Nur von fern. Aber er war in gewisser Hinsicht wichtig für mich. Er war mein Vater.«
    Theo wußte im ersten Moment nicht, was er sagen sollte. »Du … du meinst damit, daß er irgendwie dein geistlicher Vater war, nicht wahr?« fragte er schließlich.
    Kleiderhaken schüttelte langsam den Kopf. Das Schlenkern seiner langen Nase dabei hätte eigentlich grotesk, ja komisch wirken müssen, doch es erinnerte Theo nur daran, in was für einer seltsamen Welt er sich befand, einer Welt, in der es immer noch vieles gab, das er nicht verstand. »Er hat mich gezeugt. Mit meiner Mutter. Auf die übliche Art.«
    »Mein Gott, und du hast ihn nur von fern gekannt? Hast du nicht mit ihm geredet? Hat er es gewußt?«
    »Ich glaube nicht, daß er es wußte, obwohl er mich ein- oder zweimal ansah, als ob irgend etwas an mir ihn nachdenklich stimmte. Aber ich war nur ein Kind aus einer seiner frühen Verbindungen, und deshalb kannte er meinen Namen nicht – er hatte ihn nie erfahren. Meine Mutter lernte ihn auf der höheren Goblinschule kennen. Sie wurde mit Schimpf und Schande aus ihrem Nest vertrieben, als ich vaterlos zur Welt kam, und fand auf dem Lande Zuflucht.« Er begleitete das mit einem unbehaglichen Achselzucken. »Es spielt keine Rolle mehr. Er ist tot. Er ist ein Held. Ich bin Kleiderhaken. Ich bin seinetwegen nicht mehr und nicht weniger.«
    Theo dachte an seine eigenen Eltern, an seine lebenslangen Bemühungen, sich selbst zu verstehen, indem er sie verstand, sich dadurch zu rechtfertigen, daß er ihnen die Verantwortung für alles gab, was sie mit ihm falsch gemacht oder an ihm versäumt hatten. »Das ist alles? Macht dir das gar nichts aus?«
    »Natürlich macht es mir etwas aus. Deshalb habe ich dich ja nach seinen letzten Stunden gefragt. Ich bin auf dem Weg zur Trauerfeier, genau wie alle anderen Mitglieder meines Volkes hier, und ich möchte ihn gern in seiner ganzen Gestalt im Gedächtnis bewahren, aber das ist alles. Ich bin einer von ihnen, einer der Lebenden, und er nicht. Natürlich macht es mir etwas aus, aber ich habe von jeher mein Leben ohne ihn gelebt.«
    »Dürfen Fremde dem Begräbnis beiwohnen?«
    »Du bist dort nicht zugelassen, nur Goblins. Deshalb hat er gestern abend auf der Brücke von dir Abschied genommen.«
    Eine Ehre, hatte Wuschel es genannt, und Theo hatte nicht verstanden, was er damit meinte. Jetzt verstand er. »Hast du ihn geliebt?«
    Kleiderhaken warf eine Hand hoch und berührte sich an der Stirn. Theo kannte die Geste nicht, aber sie sah irgendwie rituell aus. »Als Sohn oder als ein Goblin, der stolz auf das ist, was er getan hat?«
    »Sowohl als auch, würde ich sagen.«
    »Dann ja.« Kleiderhaken erhob sich. »Aber heute ist die Sonne wieder aufgegangen, wie sie es jeden Morgen macht. Danke, daß du dir die Zeit genommen hast, Theo. Ich muß jetzt los. Ich muß meinen Vater essen gehen.«
    Theo sah ihm hinterher, bis er die kleine Gestalt mit der dunklen Körperbehaarung ganz aus den Augen verloren hatte. Als Kleiderhaken verschwunden war, blieb Theo weiter im Zelteingang
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