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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch
Autoren: H.G. Wells
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sonnenbeschienenen Wälder.
    Er blickte starr um sich, und dann sah er im dürren Laub zu seinen Füßen das blutbefleckte Haar. Die Peitsche entglitt seinen Händen, die Röte wich aus seinem Gesicht. „Schmerz!“ sagte er. „Warum liegt er so regungslos?“ Er nahm seinen Fuß von Gotchs Schulter, beugte sich hinunter zu der hingestreckten Gestalt, horchte, kniete sich nieder – schüttelte ihn. „Wach auf!“ sagte der Engel. Dann noch sanfter, „Wach auf!“
    Er verweilte noch einige Minuten oder länger und horchte, stand dann rasch auf und blickte um sich auf die schweigenden Bäume. Tiefes Entsetzen kam über ihn, ergriff ihn ganz und gar. Mit einer jähen Geste drehte er sich um.
    „Was ist mit mir geschehen?“ sagte er mit angsterfülltem Flüstern.

    Er wich vor der regungslosen Gestalt zurück.
    „Tot!“ sagte er plötzlich, wandte sich von Panik ergriffen um und stürzte durch den Wald davon.

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    Einige Minuten, nachdem sich die Schritte des Engels in der Ferne verloren hatten, stützte Gotch sich mit der Hand auf. „Bei Gott“, sagte er, „Crump hat recht. Am Kopf auch verletzt!“ Er griff mit der Hand ans Gesicht und spürte zwei Striemen, die quer über das Gesicht liefen. Sie schmerzten und waren angeschwollen.
    „Ich werde es mir zweimal überlegen, bevor ich meine Hand noch einmal gegen einen Irren erhebe“, sagte Sir John Gotch.
    „Es mag sein, daß sein Verstand schwach ist, aber der Teufel soll mich holen, wenn der keinen kräftigen Schlag hat. Puh! Er hat mir mit dieser höllischen Peitsche ein Stück vom oberen Teil des Ohres glatt abgetrennt.
    Das Pferd, dieser Satansbraten, wird in der altbewährten Wildheit auf das Haus zugaloppieren. Meine kleine Madame wird vor Angst ihren Verstand verlieren. Und ich ... ich werde erklären müssen, wie das alles geschehen ist.
    Während sie mich mit ihren Fragen bombardiert.
    Ich hätte gute Lust, in diesem Gehege Selbstschußanlagen und Fußangeln aufzustellen.
    Verdammtes Gesetz!“

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    Aber der Engel, der dachte, Gotch sei tot, irrte, von Gewissensbissen und Furcht getrieben, durch das Dickicht und Unterholz entlang des Sidders. Sie können sich kaum vorstellen, wie erschrocken er war, angesichts dieses letzten und überwältigenden Beweises seines übergreifenden Menschentums. All die Schattenseiten, die Leidenschaft und der Schmerz des Lebens schienen sich auf ihn zu legen, unerbittlich, schienen ein Teil seiner selbst zu werden, und ihn an all das zu ketten, was er vor einer Woche noch an den Menschen seltsam und bemitleidenswert gefunden hatte.
    „Das ist wahrlich keine Welt für einen Engel!“ sagte der Engel. „Es ist eine Welt des Krieges, eine Welt des Schmerzes, eine Welt des Todes.
    Zorn erfüllt einen ... Ich, der ich Schmerz und Zorn nicht gekannt habe, stehe hier mit blutbefleckten Händen. Ich bin gefallen. In diese Welt zu kommen, heißt fallen. Man muß hungern und dürsten und von tausend Begierden gepeinigt werden. Man muß um einen Halt kämpfen, muß zornig sein, muß schlagen ...“ Er streckte seine Hände zum Himmel empor, die tiefe Bitterkeit hilflosen Schuldgefühls im Gesicht, und ließ sie dann mit einer verzweifelten Geste wieder fallen. Die Gefängnismauern dieses engen, von Leidenschaft beherrschten Lebens schienen langsam über ihn hereinzubrechen, unabwendbar und unausweichlich, um ihn bald völlig zu erdrücken. Er fühlte das, was wir armen Sterblichen alle früher oder später fühlen müssen – das erbarmungslose Gesetz der Notwendigkeit, nicht nur um uns, sondern (und hier beginnt das eigentliche Problem) auch in uns, das all unser hohes Streben vereitelt und uns immer wieder unweigerlich zwingt, unsern besten Teil zu verleugnen. Aber bei uns ist es ein allmählicher Abstieg, der in unmerklichen Schritten über eine lange Spanne von Jahren vorsichgeht; bei ihm war es die furchtbare Entdeckung innerhalb einer kurzen Woche. Er empfand, daß er verkrüppelt worden war, gefangen, geblendet, betäubt in den Fesseln dieses Lebens, er empfand, was ein Mensch empfinden würde, der irgendein schreckliches Gift eingenommen hat und dann spürt, wie sich die Zerstörung in ihm ausbreitet.
    Er schenkte weder dem Hunger noch der Müdigkeit noch dem Verstreichen der Zeit Beachtung. Immer weiter ging er, mied Häuser und Wege, wandte sich beim Anblick und Geräusch eines Menschen ab und haderte stumm und verzweifelt mit dem Schicksal. Seine Gedanken wirbelten nicht durcheinander, sondern waren wie gebannt,
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