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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch
Autoren: H.G. Wells
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sicher, Sir ...“
    Der Blick des Vikars wies mit ungewohnter Beredtheit auf die Tür.

45
    „Tatsache ist“, sagte der Vikar, „daß dies hier keine Welt für Engel ist.“
    Die Jalousien waren nicht geschlossen worden, und die Welt draußen, die unter dem bedeckten Himmel noch im Dämmerlicht lag, schien unsagbar grau und kalt. Der Engel saß, in niedergeschlagenes Schweigen gehüllt, bei Tisch. Seine unumgängliche Abreise war angekündigt worden. Da seine Anwesenheit die Leute verletzte und den Vikar unglücklich machte, stimmte er der Entscheidung als gerechtfertigt zu, aber was mit ihm nach dem Fortgehen geschehen sollte, konnte er sich nicht vorstellen. Sicher etwas sehr Unangenehmes.
    „Da ist die Violine“, sagte der Vikar. „Nur, nach unseren Erfahrungen ...“
    „Ich muß Ihnen Kleider besorgen – eine entsprechende Ausrüstung. Du meine Güte, Sie haben keine Ahnung vom Zugfahren! Auch von Geld nicht und davon, wie man sich eine Unterkunft mietet. Restaurants. Ich muß wenigstens mitkommen und sehen, daß Sie untergebracht sind! Ihnen Arbeit verschaffen.
    Aber ein Engel in London! Der für seinen Lebensunterhalt arbeitet! Das graue, kalte Dickicht von Menschen! Was wird aus Ihnen werden? Wenn ich einen Freund auf der Welt hätte, der mir glauben würde!
    „Ich sollte Sie nicht wegschicken ...“
    „Sorge dich nicht zu sehr um mich, mein Freund“, sagte der Engel. „Wenigstens endet euer Leben. Und es gibt da einiges. Es gibt etwas in eurem Leben – Du sorgst dich um mich!
    Ich dachte, es gäbe in eurem Leben überhaupt nichts Schönes ...“
    „Und ich habe Sie verraten!“ sagte der Vikar, und Gewissensbisse überkamen ihn plötzlich.
    „Warum habe ich ihnen allen nicht die Stirn geboten – und gesagt: ,Das ist das Beste am Leben?’ Was bedeuten schließlich all diese alltäglichen Kleinigkeiten?“ Er hielt plötzlich inne. „Was bedeuten sie?“ sagte er.
    „Ich bin in dein Leben getreten und habe dir nur Sorgen bereitet“, sagte der Engel.
    „Sagen Sie doch so etwas nicht“, sagte der Vikar. „Sie sind in mein Leben getreten und haben mir die Augen geöffnet. Ich habe geträumt, geträumt. Das zu träumen war wichtig für mich und auch das andere. Zu träumen, daß dieses enge Gefängnis die Welt ist. Und der Traum schwebt mir noch immer vor Augen und ängstigt mich. Das ist alles. Sogar Ihre Abreise – Ist es nicht etwa nur ein Traum, daß Sie gehen müssen?“
    Als er in dieser Nacht in seinem Bett lag, kam ihm der mystische Aspekt des Ganzen noch deutlicher zu Bewußtsein. Er lag wach und hatte die schrecklichsten Visionen, wie sein sanfter und verletzlicher Besucher durch die mitleidlose Welt irrte und ihm die grausamsten Mißgeschicke widerfuhren. Sein Gast war ganz sicher ein Engel. Er versuchte, alle Ereignisse der letzten acht Tage noch einmal an sich vorüberziehen zu lassen. Er dachte an den hei
    ßen Nachmittag, an den Schuß, den er aus lauter Überraschung abfeuerte, an die flatternden, schillernden Flügel, die schöne, in eine safrangelbe Robe gekleidete Gestalt auf dem Boden. Wie wunderbar ihm das alles vorgekommen war! Dann schweiften seine Gedanken über zu dem, was er über die andere Welt gehört hatte, zu den Träumen, die die Violine beschworen hatte, den verschwimmenden, unbestimmten, wunderbaren Städten des Landes der Engel. Er versuchte, sich die Umrisse der Gebäude ins Gedächtnis zurückzurufen, die Gestalt der Früchte an den Bäumen, das Aussehen der geflügelten Wesen, die seine Wege kreuzten. Die Bilder der Erinnerung wurden zur momentanen Wirklichkeit, wurden von Augenblick zu Augenblick lebendiger, während seine Sorgen immer mehr verblaßten; und so glitt der Vikar, sanft und still, aus seiner Welt der Sorgen und Verwirrungen in das Land der Träume.

46
    Delia saß am offenen Fenster und hoffte, den Engel spielen zu hören. Aber in dieser Nacht sollte es kein Geigenspiel geben. Der Himmel war bedeckt, aber der Mond war dennoch sichtbar. Hoch oben trieb ein abgerissener Wolkenfetzeh über den Himmel, und bald war der Mond ein verschwommener Lichtfleck, bald war er verdeckt, und bald schwebte er klar und hell und scharf gegen den nachtblauen Abgrund abgehoben dahin. Und bald darauf hörte sie, wie die Tür zum Garten geöffnet wurde und eine Gestalt in das blasse Mondlicht hinaustrat. Es war der Engel. Aber an Stelle des ausgebeulten Überziehers trug er wieder seine safrangelbe Robe. In dem schwachen Licht schimmerte dieses Gewand nur
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