Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch
Autoren: H.G. Wells
Vom Netzwerk:
er, er sehe einen Adler. Er war nahe dem Zenit und unglaublich weit entfernt, bloß ein leuchtender Fleck über den rosafarbenen Zirruswölkchen; und es schien, als flattere er und stoße gegen den Himmel, wie eine eingesperrte Schwalbe gegen eine Fensterscheibe. Dann kam er herunter in den Schatten der Erde, strich in einem großen Bogen gegen Portburdock, kreiste über Hanger, und verschwand so hinter dem Gehölz des Siddermorton Parks. Er schien größer zu sein als ein Mensch. Gerade bevor er verschwand, tauchte das Licht der aufgehenden Sonne über dem Rand der Hügel auf und streifte seine Flügel, die mit der Helligkeit lodernder Flammen und in der Farbe kostbarer Edelsteine aufleuchteten, und so zog er vorbei und ließ den Augenzeugen staunend und mit offenem Munde zurück.
    Ein Pflüger, der unterwegs zu seiner Arbeit war und unterhalb der Steinmauer des Siddermorton Parks entlangging, sah den Seltsamen Vogel einen Augenblick lang über sich aufblitzen und in den dunstigen Öffnungen zwischen den Buchen verschwinden. Aber er sah nur wenig von der Farbe der Flügel, und konnte nur feststellen, daß die langen Beine des Vogels rosafarben und kahl zu sein schienen wie nacktes Fleisch, und daß sein Körper weiß gesprenkelt zu sein schien. Er glitt wie ein Pfeil durch die Luft und war verschwunden.
    Das waren die ersten drei Augenzeugen, die den Seltsamen Vogel sahen.

    Nun schreckt heutzutage keiner mehr vor dem Teufel und der eigenen Sündhaftigkeit zurück oder sieht sonderbare, schillernde Flügel im Dämmerlicht, ohne nachher etwas davon zu sagen. Der Schreiber des jungen Anwalts erzählte es beim Frühstück seiner Mutter und seinen Schwestern und nachher auf seinem Weg ins Büro nach Portburdock dem Schmied von Hammerpond, und er verbrachte den Morgen damit, gemeinsam mit den anderen Büroangestellten darüber zu rätseln anstatt Verträge abzuschreiben. Und Sandy Bright besprach die Sache mit Mr. Jekyll, dem Volksgeistlichen, und der Pflüger sagte es dem alten Hugh und später dem Vikar von Siddermorton.
    „Die Leute in dieser Gegend sind nicht besonders phantasievoll“, sagte der Vikar von Siddermorton, „ich möchte wissen, wieviel daran wahr ist. Abgesehen davon, daß er glaubt, die Flügel seien braun, klingt es ungemein nach Flamingo.“

3
    Der Vikar von Siddermorton (welches in gerader Linie neun Meilen landeinwärts von Siddermouth liegt) war ein Ornithologe.
    Beschäftigungen solcher Art, wie etwa Botanik, Altertumsforchung oder Volkskunde, sind für einen alleinstehenden Mann in seiner Position beinahe unvermeidlich. Er widmete sich auch der Geometrie und warf gelegentlich unlösbare Probleme in der „Educational Times“ auf, aber Ornithologie war seine Stärke. Er hatte der Liste jener Vögel, die es gelegentlich nach Britannien verschlägt, bereits zwei gefiederte Besucher hinzugefügt. Sein Name war in den Kolumnen des „Zoologist“ ein Begriff. (Ich fürchte, daß er heute vielleicht vergessen ist, denn die Welt dreht sich schnell.) Und am Tag nach dem Auftauchen des Seltsamen Vogels, kam zuerst einer und dann noch einer, um die Geschichte des Pflügers zu bekräftigen und um ihm, nicht als stünde es in irgendeinem Zusammenhang, vom grellen Licht über dem Sidderford Moor zu erzählen.
    Nun hatte der Vikar von Siddermorton zwei Rivalen in seinen wissenschaftlichen Studien: Gully aus Sidderton, der tatsächlich das grelle Licht gesehen hatte, und der auch die Skizze an die Zeitschrift „Nature“ gesandt hatte, und Borland, der mit naturkundlichen Artikeln handelte und das Laboratorium für Meeresbiologie in Portburdock führte. Nach Meinung des Vikars hätte Borland bei seinen Ruderfußkrebsen bleiben sollen, statt dessen hatte er einen Tierpräparator in seinen Diensten, und nutzte die Küstenlage, um seltene Meeresvögel aufzuspüren. Es war für jeden, der etwas vom Sammeln verstand, offensichtlich, daß diese beiden Männer das Land noch innerhalb von 24 Stunden nach dem seltsamen Besucher absuchen würden.
    Des Vikars Blick ruhte auf dem Buchrücken von Saunders’ „Britische Vögel“, denn er war zu diesem Zeitpunkt im Arbeitszimmer. An zwei Stellen war bereits eingetragen: „Das einzige bekannte britische Exemplar wurde von Rev. K. Hillyer, Vikar von Siddermorton, sichergestellt.“ Ein dritter solcher Eintrag. Er bezweifelte, ob irgendein anderer Sammler das hatte.
    Er schaute auf seine Uhr – zwei. Er hatte gerade zu Mittag gegessen, und gewöhnlich „ruhte“ er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher