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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch
Autoren: H.G. Wells
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Entschlossenheit. Daher ließ er sich weiter darauf ein, wie Sie sogleich hören sollen. Ihm war heiß, es war nach dem Mittagessen, er war nicht in der Stimmung für geistige Spitzfindigkeiten. Der Engel hatte ihn in eine mißliche Lage gebracht und lenkte ihn durch belangloses Schillern und ein heftiges Geflatter noch mehr vom Wesentlichen ab. In diesem Augenblick fiel es dem Vikar gar nicht ein zu fragen, ob der Engel möglich sei oder nicht. Er akzeptierte ihn in der Verwirrung des Augenblicks, und das Unglück war geschehen. Versetz dich in seine Lage, mein liebes „Athenaeum“. Du gehst auf die Jagd. Du triffst etwas. Das allein würde dich schon aus der Fassung bringen. Du bemerkst, daß du einen Engel getroffen hast, er wälzt sich eine Minute lang herum, setzt sich dann auf und spricht zu dir. Er bringt keine Entschuldigung für seine Unmöglichkeit vor. Viel mehr noch, er bürdet dir geschickt die ganze Verantwortung auf. „Ein Mensch!“ sagt er, auf dich zeigend. „Ein Mensch in den verrücktesten schwarzen Kleidern und ohne einer Feder. Dann habe ich mich nicht getäuscht. Ich bin tatsächlich im Land der Träume!“ Du mußt ihm antworten. Es sei denn, du nimmst Reißaus. Oder du jagst ihm eine zweite Kugel durch den Kopf, um der Auseinandersetzung zu entgehen.
    „Das Land der Träume! Verzeihen Sie, wenn ich behaupte, daß Sie gerade aus demselben gekommen sind“, war die Antwort des Vikars.
    „Wie ist das möglich?“ sagte der Engel.
    „Ihr Flügel blutet“, sagte der Vikar. „Gestatten Sie mir, bevor wir miteinander sprechen, das Vergnügen – das traurige Vergnügen, ihn zu verbinden? Es tut mir wirklich aufrichtig leid ...“ Der Engel griff mit der Hand nach hinten und zuckte zusammen.
    Der Vikar half seinem Opfer aufzustehen. Der Engel drehte sich ernst um, und der Vikar untersuchte, zahllose nichtssagende Zwischenbemerkungen hervorkeuchend, sorgfältig die verletzten Flügel. (Die Flügel fügten sich, wie er mit Interesse gewahrte, in einer Art zweiter Schultergelenkgrube an den äußeren oberen Rand des Schulterblattes. Der linke Flügel hatte wenig Schaden genommen, abgesehen vom Verlust einiger Hauptfederkiele, und einem Schuß in die ala spuria, aber der Oberarmknochen des rechten war offensichtlich zertrümmert.) Der Vikar stillte die Blutung so gut er konnte und verband den Knochen mit seinem Taschentuch und dem Schal, der ihm von seiner Haushälterin bei jedem Wetter aufgezwungen wurde.
    „Ich fürchte, Sie werden einige Zeit nicht fliegen können“, sagte er, als er den Knochen befühlte.
    „Ich mag diese neue Empfindung nicht“, sagte der Engel.
    „Den Schmerz, wenn ich den Knochen befühle?“
    „Den was?“ sagte der Engel.
    „Den Schmerz.“
    „‚Schmerz’ – nennst du es. Nein, den Schmerz mag ich sicher nicht. Habt ihr viel von diesem Schmerz im Land der Träume?“

    „Eine ganz schöne Menge“, sagte der Vikar.
    „Kennen Sie diese Empfindung nicht?“
    „Überhaupt nicht“, sagte der Engel. „Ich mag sie nicht.“
    „Wie seltsam!“ sagte der Vikar, und schnappte nach dem Ende eines Leinenstreifens, um einen Knoten zu machen. „Ich glaube, dieser Verband müßte für den Augenblick reichen“, sagte er. „Ich habe mich früher einmal mit Sanitätsarbeit beschäftigt, aber niemals mit dem Verbinden von Flügelverletzungen. Hat der Schmerz ein wenig nachgelassen?“
    „Es ist jetzt mehr ein Glühen als ein Lodern“, sagte der Engel.
    „Ich fürchte, Sie werden dieses Glühen jetzt einige Zeit spüren“, sagte der Vikar, immer noch mit der Verletzung beschäftigt.
    Der Engel zuckte mit dem Flügel und drehte sich um, um wieder den Vikar anzublicken. Er hatte während des ganzen Gesprächs versucht, über die Schulter den Vikar im Auge zu behalten. Mit hochgezogenen Augenbrauen und einem wachsenden Lächeln auf seinem schönen, sanften Gesicht betrachtete er ihn vom Scheitel bis zur Sohle. „Es ist ein sonderbares Gefühl“, sagte er mit einem freundlichen, kleinen Lachen, „mit einem Menschen zu sprechen!“

    „Wissen Sie“, sagte der Vikar, „wenn ich es mir jetzt überlege, ist es auch für mich sonderbar, daß ich mit einem Engel sprechen soll. Ich bin in gewisser Hinsicht ein Tatsachenmensch.
    Ein Vikar muß das sein. Engel habe ich immer als – künstlerische Phantasiegebilde ... betrachtet.“
    „Genau dafür halten wir auch die Menschen.“
    „Aber sicher haben Sie so viele Menschen gesehen ...“
    „Nie, bis zum heutigen Tag.
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