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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch
Autoren: H.G. Wells
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war. Und in seiner freien Hand trug er ein Taschentuch, mit dem er sich immer wieder die Schweißperlen vom Gesicht wischte.
    Er kam an dem großen Teich vorbei und an dem von braunen Blättern übersäten Tümpel, in dem der Sidder entspringt, und gelangte auf diesem Weg (der zuerst sandig und dann kreidig ist) zu dem kleinen Tor, das in den Park führt. Es gibt sieben Stufen zum Tor hinauf und auf der anderen Seite wieder sechs hinunter – damit das Rotwild nicht entkommt –, so daß, als der Vikar im Torweg stand, sein Kopf zehn Fuß oder mehr über dem Erdboden war.
    Und als er zu der Stelle blickte, wo wildwucherndes Farnkraut die Senke zwischen zwei Buchenhainen füllte, erblickte sein Auge etwas Buntes, das flackerte und wieder verschwand.
    Plötzlich glitt ein Leuchten über sein Gesicht und seine Muskeln wurden straff; er duckte den Kopf, packte seine Flinte mit beiden Händen und verharrte regungslos. Dann kam er mit äußerster Wachsamkeit über die Stufen in den Park und kroch mehr als er ging, die Flinte noch immer mit beiden Händen umklammert, auf den Dschungel von Farnkraut zu.
    Nichts bewegte sich, und er fürchtete schon, daß ihn seine Augen getäuscht hätten, bis er die Farne erreicht hatte und mit einem Rascheln bis Brusthöhe darin verschwunden war.
    Da erhob sich plötzlich etwas zwanzig Yards oder weniger vor seinem Gesicht in einem farbenprächtigen Geflacker und peitschte die Luft. Im nächsten Augenblick war es über die Farne geflattert und breitete weit seine Schwingen aus. Er sah, was es war, das Blut stockte in seinen Adern, und er feuerte aus reiner Überraschung und Gewohnheit.

    Ein Schrei übermenschlichen Schmerzes ertönte, die Flügel schlugen zweimal durch die Luft, das Opfer stürzte mit großer Geschwindigkeit schräg herunter und schlug auf dem Boden auf – ein zuckender Haufen von sich krümmenden Gliedmaßen, gebrochenen Flügeln und wirbelnden, blutbefleckten Federn –

hinten auf dem rasenbedeckten Hang.
    Der Vikar stand entgeistert da, mit der rauchenden Flinte in der Hand. Es war überhaupt kein Vogel, sondern ein Jüngling mit einem außergewöhnlich schönen Gesicht in eine safrangelbe Robe gekleidet und mit schillernden Flügeln. Farbige Wogen, Fluten von Purpur und Karmesin, goldglänzendem Grün und tiefem Blau glitten über seine Schwingen, als er sich in Todesqual wand. Nie hatte der Vikar ein Farbenmeer von solcher Pracht gesehen, weder Fenster aus buntem Glas, noch die Flügel von Schmetterlingen, nicht einmal die Pracht von Kristallen, die man zwischen Prismen betrachtet, ja kein Farbenspiel auf der ganzen Welt konnte sich damit messen. Zweimal erhob sich der Engel, nur um wieder seitwärts hinzufallen. Dann wurde das Schlagen der Flügel schwächer, das erschrockene Gesicht wurde bleich, die Farbenflut ebbte ab, und plötzlich streckte er sich mit einem Schluchzen auf den Boden hin, und die wechselnden Farbtöne auf den gebrochenen Flügeln verblaßten rasch zu einem eintönigen, gleichmäßig stumpfen Grau.
    „Oh! Was ist mit mir geschehen?“ schrie der Engel (denn ein solcher war es), heftig bebend, die Arme ausgestreckt und die Hände in die Erde gekrallt, und dann lag er still.
    „Großer Gott!“ sagte der Vikar. „Ich hatte keine Ahnung.“ Er ging vorsichtig nach vor. „Entschuldigen Sie“, sagte er, „ich fürchte, ich habe Sie erschossen.“

Es war die einleuchtende Bemerkung.
    Der Engel schien sich seiner Gegenwart zum ersten Mal bewußt zu werden. Er erhob sich, abgestützt auf eine Hand, seine braunen Augen starrten in die des Vikars. Dann mühte er sich mit einem Keuchen, die Unterlippe zwischen den Zähnen, in eine sitzende Stellung und musterte den Vikar vom Scheitel bis zur Sohle.
    „Ein Mensch!“ sagte der Engel und griff sich an die Stirn; „ein Mensch in den verrücktesten schwarzen Kleidern und ohne einer Feder.
    Dann habe ich mich nicht getäuscht. Ich bin tatsächlich im Land der Träume!“

6
    Nun gibt es einige Dinge, die, offen gesagt, unmöglich sind. Der einfachste Verstand wird zugeben, daß diese Situation unmöglich ist. Das
    „Athenaeum“ wird wahrscheinlich dasselbe sagen, sollte es sich herablassen, dieses Buch zu rezensieren. Sonnenbeschienene Farne, ausladende Buchen, der Vikar und die Flinte sind hinreichend akzeptabel. Aber der Engel ist eine andere Sache. Vernunftmenschen werden eine so überspannte Geschichte kaum weiterlesen. Und der Vikar erkannte diese Unmöglichkeit ganz klar. Aber es fehlte ihm an
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