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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch
Autoren: H.G. Wells
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auf die Hände, er lag noch immer an der Kante der Klippe und begann an Delias Gesicht zu denken, an das Licht in ihren Augen. Der Engel hatte das seltsame Verlangen, zu ihr zu gehen und ihr von seinen verkümmerten Flügeln zu erzählen. Er hatte das Verlangen, seine Arme um sie zu legen und dem Land nachzuweinen, das er verloren hatte. „Delia!“ sagte er ganz sanft vor sich hin. Und in diesem Augenblick verdunkelte eine Wolke die Sonne.

44
    Mrs. Hinijer überraschte den Vikar, als sie nach dem Tee an die Tür seines Arbeitszimmers klopfte. „Verzeihen Sie, Sir“, sagte Mrs.
    Hinijer. „Aber dürfte ich es wagen, Sie einen Augenblick sprechen?“
    „Gewiß, Mrs. Hinijer“, sagte der Vikar, nicht ahnend, welcher Schlag folgen sollte. Er hielt einen Brief in der Hand, einen sehr seltsamen und unangenehmen Brief von seinem Bischof, einen Brief, der ihn ärgerte und ihm Sorgen bereitete, der mit energischen Kraftausdrücken die Gäste kritisierte, die er in seinem Haus zu bewirten pflegte. Nur der volkstümliche Bischof eines demokratischen Zeitalters, ein Bischof, der immer noch zur Hälfte Erzieher war, konnte einen derartigen Brief schreiben.
    Mrs. Hinijer hüstelte hinter der vorgehaltenen Hand und kämpfte mit Atemschwierigkeiten. Der Vikar war besorgt. Gewöhnlich war er derjenige, der bei ihren Unterredungen am meisten aus der Fassung gebracht wurde. Dies war immer gegen Ende der Unterredung der Fall.
    „Nun?“ sagte er.

    „Darf ich es wagen, Sir, zu fragen, wann Mr.
    Engel uns verlassen wird?“ (Hüsteln)
    Der Vikar sprang auf. „Sie fragen, wann Mr.
    Engel uns verläßt?“ wiederholte er langsam, um Zeit zu gewinnen. „Noch jemand!“
    „Es tut mir leid, Sir. Aber ich bin gewohnt, feine Leute zu bedienen, Sir; und Sie können sich ja nicht vorstellen, was es heißt, jemand wie ihn zu bedienen.“
    „Wie ... ihn! Habe ich richtig verstanden, Mrs.
    Hinijer, daß Sie Mr. Engel nicht leiden können?“
    „Sehen Sie, Sir, bevor ich zu Ihnen gekommen bin, Sir, bin ich siebzehn Jahre bei Lord Dundoller gewesen, und Sie, Sir – wenn Sie gestatten – sind selbst ein vollkommener Gentleman, Sir – obwohl Geistlicher. Und dann ...“
    „Ach, herrje!“ sagte der Vikar. „Und Sie betrachten Mr. Engel nicht als Gentleman?“
    „Es tut mir leid, das sagen zu müssen, Sir.“
    „Aber was ...? Mein Gott! Sicher!“
    „Es tut mir leid, das sagen zu müssen, Sir.
    Aber wenn ‘ne Person plötzlich zum Vegetarier wird und das ganze Essen hinauswirft und kein eigenes Gepäck hat, das ihm gehört, und Hemden und Socken von seinem Gastgeber borgt und nichts Besseres zu tun hat als Erbsen mit dem Messer essen zu wollen (wie ich es mit eigenen Augen gesehen habe) und an merkwürdigen Orten die Dienstmädchen anspricht, seine Serviette nach dem Essen zusammenlegt, Hackfleisch mit den Fingern ißt und mitten in der Nacht Geige spielt und jeden am Einschlafen hindert und wenn ältere Leute als er die Treppe hinaufgehen, sie anstarrt und angrinst, und sich bei so viel Gelegenheiten danebenbenimmt, daß ich Ihnen gar nicht alle aufzählen kann, dann muß man so denken, Sir. Gedanken sind frei, Sir, und man kann nicht anders, als seine Schlüsse zu ziehen. Außerdem, im ganzen Dorf spricht man über ihn – teils über dies, teils über das. Ich erkenne einen Gentleman, wenn ich einen Gentleman sehe, und auch wenn ich keinen sehe, weiß ich, was ein Gentleman ist, und ich und Susan und George, wir haben drüber gesprochen, weil wir die höheren Dienstboten sind, sozusagen, und erfahren sind, und wir haben dafür gesorgt, daß Delia nicht dabei gewesen ist. Ich hoffe nur, daß er ihr nichts tut. Und verlassen Sie sich drauf, Sir, dieser Mr. Engel ist nicht, was Sie denken, daß er ist, Sir, und je früher er aus dem Haus ist, um so besser.“
    Mrs. Hinijer stoppte jäh und stand keuchend, aber ernst da, die Augen grimmig auf den Vikar gerichtet.

    „Wirklich, Mrs. Hinijer!“ sagte der Vikar und dann, „oh, Gott.“
    „Was habe ich getan?“ sagte der Vikar, sprang plötzlich auf und rief die unerbittlichen Parzen an. „Was habe ich getan?“
    „Das kann niemand wissen“, sagte Mrs. Hinijer. „Obwohl im Dorf eine ganze Menge geredet wurde.“
    „Zum Teufel!“ sagte der Vikar, wandte sich ab und starrte aus dem Fenster. Dann drehte er sich um. „Hören Sie, Mrs. Hinijer! Mr. Engel wird dieses Haus im Laufe dieser Woche verlassen. Genügt das?“
    „Vollkommen“, sagte Mrs. Hinijer. „Und ich bin mir
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