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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch
Autoren: H.G. Wells
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sagte Crump und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Baumstumpf neben sich.
    Der Engel setzte sich zitternd auf den Baumstumpf und starrte den Doktor an.

Crump nahm seinen Tabaksbeutel heraus.
    „Du bist ein seltsamer Mensch“, sagte der Engel. „Deine Überzeugungen sind – wie eine eherne Mauer.“
    „Das ist wahr“, sagte Crump – geschmeichelt.
    „Aber ich sage dir – ich versichere dir, das Ganze ist so – es gibt nichts, oder wenigstens erinnere ich mich an nichts, das ich von dieser Welt gewußt hätte, ehe ich mich in der Dunkelheit der Nacht auf dem Moor oberhalb Sidderfords wiedergefunden habe.“
    „Wo haben Sie dann die Sprache gelernt?“
    „Ich weiß es nicht. Ich sage dir nur – aber ich habe nicht den kleinsten Beweis, um dich zu überzeugen.“
    „Und Sie glauben wirklich“, sagte Crump, der plötzlich zu ihm herüberkam und ihm in die Augen blickte; „Sie glauben wirklich, Sie seien früher ewig in einem wunderbaren Himmel gewesen?“

    „Ja“, sagte der Engel.
    „Pah!“ sagte Crump und zündete die Pfeife an. Er rauchte eine Weile. Er hatte den Ellbogen auf dem Knie aufgestützt, und der Engel beobachtete ihn. Dann schien die Sorge langsam aus seinem Gesicht zu weichen.
    „Es ist einfach möglich“, sagte er, mehr zu sich als zum Engel, und schwieg neuerlich.
    „Wissen Sie“, sagte er und brach das Schweigen wieder, „es gibt so etwas wie Persönlichkeitsspaltung ... Ein Mensch vergißt manchmal, wer er ist, und denkt, er sei jemand anders. Verläßt das Zuhause, die Freunde und alles andere und führt ein Doppelleben. Erst vor einem Monat hat ,Nature’ von so einem Fall berichtet. Der Mann war zeitweise Engländer und Rechtshänder und zeitweise Waliser und Linkshänder. Wenn er Engländer war, konnte er nicht Walisisch sprechen, wenn er Waliser war, konnte er nicht Englisch ... Hm.“ Plötzlich drehte er sich zum Engel und sagte:
    „Zuhause!“ Er glaubte, er könnte im Engel irgendeine latente Erinnerung an die verlorene Jugend wachrufen. Er fuhr fort: „Dada, Papa, Vati, Mami, Pa, Vater, Alter, alter Knabe, Mutter, liebe Mutter, Ma, Mutti ... Hat keinen Sinn.
    Weshalb lachen Sie?“

    „Oh, nichts“, sagte der Engel. „Du hast mich ein bißchen überrascht – das ist alles. Vor einer Woche noch hätte mich dieser Wortschatz verwirrt.“
    Eine Minute lang sah Crump den Engel schweigsam und streng aus den Augenwinkeln an.
    „Sie haben so ein kluges Gesicht. Sie zwingen mich fast, Ihnen zu glauben. Sie sind sicher kein gewöhnlicher Irrer. Ihr Geist – sieht man von dem Verlust einer Vergangenheit ab –
    scheint recht ausgeglichen zu sein. Ich wünschte, Nordau oder Lombroso oder irgendeiner von diesen Saltpetriere-Leuten könnte einen Blick auf Sie werfen. In dieser Gegend kann man über Fälle von Geisteskrankheiten keine Erfahrung sammeln, die der Rede wert wäre. Es gibt einen Idioten – und der ist nur ein verdammter Idiot von einem Idioten –, alle übrigen sind durchaus geistig gesund.“
    „Möglicherweise erklärt das ihr Benehmen“, sagte der Engel nachdenklich.
    „Aber um Ihre prinzipielle Situation hier in Betracht zu ziehen“, sagte Crump, ohne die Bemerkung zu beachten, „ich betrachte Sie hier wirklich als schlechten Einfluß. Diese Phantasien sind ansteckend. Es ist nicht einfach nur der Vikar.
    Es gibt auch einen Mann namens Shine, der auch von dieser Schrulle befallen ist, und er war eine Woche lang betrunken, ununterbrochen, und drohte jeden niederzuschlagen, der behauptete, Sie seien kein Engel. Dann ist noch ein Mann drüben in Sidderford, so höre ich, der von einer Art religiösem Wahn befallen ist, und zwar ebenfalls deinetwegen. Solche Dinge greifen um sich wie eine Seuche. Man sollte eine Quarantäne einführen für gefährliche Ideen. Und dann habe ich noch eine Geschichte gehört ...“
    „Aber was kann ich dagegen tun?“ sagte der Engel. „Nimm einmal an, ich stifte ganz ohne Absicht Unheil ...“
    „Sie können das Dorf verlassen“, sagte Crump.
    „Dann werde ich nur in ein anderes Dorf gehen.“
    „Das ist nicht meine Sache“, sagte Crump.
    „Gehen Sie, wohin Sie wollen. Nur, gehen Sie.
    Lassen Sie diese drei Leute, den Vikar, Shine, das kleine Dienstmädchen, in deren Köpfen ganze Scharen von Engeln rumoren, in Ruhe ...“

    „Aber“, sagte der Engel. „Sich in deiner Welt behaupten! Ich sage dir, ich kann es nicht. Und laß Delia aus dem Spiel! Ich verstehe das alles nicht ... Ich weiß nicht, wie ich es
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