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Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke
Autoren: Gary Jennings
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überlebt, denen der Tod nie etwas hatte anhaben können, und die für immer hatten unsterblich sein sollen. Ich bin nunmehr länger am Leben als ein volles Schock Jahre und habe daher viel gesehen und erfahren, woran ich mich heute noch erinnere. Aber kein Mensch kann alles wissen, nicht einmal all das, was zu seinen eigenen Lebzeiten geschehen ist, und das Leben dieses Landes begann unermeßlich lange vor der Zeit, da ich selbst das Licht der Welt erblickte. Ich kann also nur von meinem eigenen sprechen, nur meinem eigenen Leben in eurer rostschwarzen Tinte zu einem Schattendasein verhelfen …
    »Und hell blitzten die Speere, hell blitzten die Speere!«
    Mit diesen Worten begann ein alter Mann von unserer Insel Xaltócan stets seine Schlachterzählungen. Wir Zuhörer waren dann augenblicklich ganz Ohr und lauschten weiterhin gebannt, selbst wenn es sich um eine ganz unbedeutende Schlacht handelte, von der er berichtete, und es sich herausstellte – nachdem er erzählt, wie es dazu kam und was dabei herauskam –, daß es möglicherweise eine höchst nebensächliche Geschichte war, kaum wert, sie überhaupt zu erzählen. Nur war es nun mal seine Gewohnheit, gleich mit dem packenden Höhepunkt herauszuplatzen und von dort aus den Faden zurück-und voranzuspinnen. Im Gegensatz zu ihm, kann ich nur mit dem Anfang beginnen und in der Zeit weiter voranschreiten, wie ich sie erlebt habe.
    Alles, was ich jetzt darlege und erkläre, hat sich wirklich zugetragen. Ich berichte nur das, was geschehen ist, ohne etwas hinzuzufügen und ohne etwas zu verfälschen. Ich küsse die Erde. Das heißt: Das schwöre ich.

    Oc ye nechca – oder, wie ihr sagen würdet: »Vor langer, langer Zeit« – war dieses hier ein Land, in dem sich nichts schneller bewegte als unsere Schnellboten laufen konnten, außer wenn die Götter sich bewegten, und in dem kein Geräusch lauter war als unsere Weitrufer rufen konnten, außer wenn die Götter sprachen. An dem Tag, den wir Sieben Blume nannten, im Mond des Aufsteigenden Gottes im Jahr Dreizehn Kaninchen sprach der Regengott Tlaloc in einem tosenden Sturm mit seiner lautesten Stimme. Das war ziemlich ungewöhnlich, da die Regenzeit längst hätte zu Ende sein müssen. Die Tlaloque-Geister, welche dem Gott Tlaloc zur Seite standen, teilten mit ihren gegabelten Blitzstäben Schläge aus, daß die großen Wolkentonnen grollend und rumpelnd aufsprangen und heftige Regengüsse daraus auf die Erde niedergingen.
    Am Nachmittag dieses Tages, im Aufruhr dieses Sturmgewitters kam ich in einem kleinen Haus auf der Insel Xaltócan aus meiner Mutter hervor und begann mein Sterben.
    Um es für Eure Chronik deutlicher zu machen – Ihr seht, ich habe mir die Mühe gemacht, auch euren Kalender zu lernen –, habe ich ausgerechnet, daß der Tag meiner Geburt der zwanzigste jenes Mondes gewesen sein muß, den ihr September nennt, und nach eurer Zeitrechnung das Jahr eintausendvierhundertsechsundsechzig. Das war zur Zeit der Herrschaft Motecuzóma Iluicamínas, was soviel bedeutet wie Der Zornige Herr, oder Derjenige, Der Pfeile In Den Himmel Schießt. Er war unser Uey-Tlatoáni, der Verehrte oder Große Sprecher; ihr würdet ihn euren König oder Kaiser nennen. Doch damals bedeutete mir weder der Name von Motecuzóma noch von irgend jemand sonst sonderlich viel.
    Im Augenblick, da ich gerade warm aus dem Mutterschoß herausgekommen war, machte es mir zweifellos weit größeren Eindruck, daß man mich augenblicklich in einen Krug mit atemberaubend kaltem Wasser eintauchte. Keine Hebamme hat sich jemals die Mühe gemacht, mir zu erklären, warum, doch nehme ich an, wenn ein Neugeborenes diesen furchtbaren Schock überlebt, kann es sämtliche Krankheiten überleben, die es in seiner Kindheit befallen. Doch wie dem auch sei, höchstwahrscheinlich beschwerte ich mich lauthals, als die Hebamme mich wickelte, während meine Mutter ihre Hände von dem Strick mit den dicken Knoten daran löste, der von der Decke herabhing und den sie gepackt gehalten hatte, als sie sich hinkniete, mich auf den Boden hinauszupressen, und mein Vater sorgsam meine abgetrennte Nabelschnur um den kleinen hölzernen Kriegsschild wickelte, den er geschnitzt hatte.
    Dieses Zeichen übergab mein Vater bestimmt dem ersten Mexícatl-Krieger, dem er begegnete; von ihm wiederum durfte man erwarten, daß er den kleinen Schild irgendwo auf dem nächsten Schlachtfeld, auf das er befohlen wurde, in den Boden steckte. Fortan hätte mein Tonáli –
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