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Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke
Autoren: Gary Jennings
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Dunkel: durch das gesprenkelte Mondlicht und den Mondschatten unter den weitausladenden Ästen und Blättern des »ältesten der ältesten« Bäume, der Ahuehuétque-Zypresse.
    Ich war damals alt genug, um von den schrecklichen Dingen gehört zu haben, die nächtens eben hinter dem Gesichtskreis der Menschen lauerten. Da war Chocaciutl, die Weinende Frau, die erste aller Mütter, die im Kindbett starb, nun ewig unterwegs, ihr verlorenes Kind und ihr eigenes verlorenes Leben beklagend. Da waren die namen-, kopf- und gliederlosen Leiber, denen es irgendwie gelang zu stöhnen, während sie sich blind und hilflos auf dem Boden wanden und zuckten. Da waren die entkörperlichten, fleischlosen Totenschädel, die kopfhoch durch die Luft trieben und Reisende scheuchten, die unterwegs von der Nacht überrascht wurden.
    Manch anderes, was im Dunkel weste, war nicht ganz so sehr zu fürchten. Da war zum Beispiel der Gott Yoáli Ehécatl, Nacht Wind, der nächtens die Straßen entlangfegte und versuchte, jeden zu packen, der so unvorsichtig war, noch in der Dunkelheit unterwegs zu sein. Aber Nacht Wind war launisch wie jeder andere Wind auch. Manchmal packte er einen Menschen, ließ ihn dann jedoch wieder frei, und wenn das geschah, wurden dem Betreffenden auch noch die Erfüllung seines Herzenswunsches und ein langes Leben zuteil, sich daran zu erfreuen. Deshalb hatten unsere Leute in der Hoffnung, den Gott stets nachsichtig und mild gestimmt zu halten, schon vor langer Zeit an verschiedenen Wegkreuzungen auf der Insel Steinbänke aufgestellt, damit Nacht Wind sich bei seinem ungestümen Umherfegen darauf ausruhen könnte. Wie gesagt, ich war alt genug, die Geister der Dunkelheit zu kennen und zu fürchten. Doch in dieser Nacht, da ich auf den breiten Schultern meines Vaters saß und eine Zeitlang größer war als ein ausgewachsener Mann, mein Haar die Zypressenzweige streifte und mein Gesicht von gesprenkeltem Mondschein liebkost wurde, hatte ich keine Angst.
    An diesen Abend erinnere ich mich deshalb so ganz besonders mühelos, weil mir in dieser Nacht zum ersten mal erlaubt wurde, einer Zeremonie beizuwohnen, bei der Menschenopfer gebracht wurden. Es handelte sich nur um eine recht unbedeutende feierliche Handlung, die zu Ehren einer weniger bedeutenden Gottheit vollzogen wurde: Atláua, des Gottes der Vogelsteller. (In jenen Tagen wimmelte es auf dem See Xaltocan von Enten und Gänsen, die auf ihren Wanderzügen hier einfielen, um sich auszuruhen und zu fressen – und von uns gegessen zu werden.) So sollte in dieser Nacht des bis zum Bersten gesättigten Monds, zu Beginn der Zeit, da die Wasservögel einfielen, nur ein Xochimíqui zur höheren Ehre des Gottes Atláua rituell getötet werden, nur ein einziger Mann. Es handelte sich nicht einmal um einen Kriegsgefangenen, der seinem Blumentod heiter oder schicksalergeben entgegengehen sollte, sondern um einen Freiwilligen, der ihn recht wehmütig erwartete.
    »Ich bin schon tot«, hatte er den Priestern erklärt. »Ich schnappe nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Meine Brust ringt nach mehr und mehr Luft, doch nährt sie mich einfach nicht mehr. Meine Glieder werden immer schwächer, mein Augenlicht schwindet, in meinem Kopf schwimmt alles, ich falle in Ohnmacht und stürze zu Boden. Ich möchte lieber auf einen Schlag sterben, als wie ein Fisch herumzuzappeln, bis mir die Luft schließlich endgültig abgedrückt wird.«
    Der Mann war ein Sklave, der vom Volk der Chinantéca weit im Süden zu uns gekommen war. Diese Menschen wurden und werden immer noch von einer merkwürdigen Krankheit befallen, die sich in bestimmten Familien zu vererben scheint: Die Chinantéca und wir nannten das die Gemalte Krankheit, weil die Haut eines Befallenen sich stellenweise leuchtendblau färbt, und ihr Spanier wiederum nennt die Chinantéca pueblo pinto oder Pintos. Nach und nach schafft der Körper eines solchen Kranken es nicht mehr, die Luft zu verarbeiten, die er einatmet, und so stirbt er einen qualvollen Erstickungstod, genauso, wie ein Fisch, den man aus seinem Lebenselement herausgerissen hat.
    Mein Vater und ich langten am Ufer des Sees an, wo ein wenig auseinander zwei kräftige Pfosten in den Boden hineingetrieben worden waren. Die Nacht rings umher erhellten Feuer in Becken, und sie war erfüllt von Schwaden schwelenden Weihrauchs. Durch diesen Dunst hindurch tanzten die Priester des Atláua: alte Männer, ganz schwarz, die Gewänder schwarz und die Gesichter geschwärzt, das
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