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Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke
Autoren: Gary Jennings
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sie selbst von Generationen derer gehört hatten, die längst vergangen sind. Ich persönlich bin zu der Überzeugung gelangt, daß die Längstverstorbenen keineswegs weiser waren als wir, auch nicht, als sie noch lebten, und daß ihr Totsein ihrer Weisheit auch keinen Glanz verliehen hat. Ich habe die feierlichen Worte der Toten stets yca mapilxocoitl, mit meinem kleinen Finger genommen – mit einem Gran Salz, wie es bei euch heißt.
    Wir wachsen heran und blicken hinab, wir werden alt und blicken zurück. Ayyo, doch was es hieß, ein Kind zu sein, ein Kind! Vor dem sich alle Wege und Tage unendlich weit erstrecken und in die Höhe führen, ohne daß man auch nur einen einzigen verpaßt oder verschwendet hätte, oder welche, die man bedauerte, gegangen zu sein oder gelebt zu haben! Alles in der Welt noch unbekannt und neu, wie einst für Ometecútli und Omeciuatl, unser Herrscherpaar, die ersten Lebewesen in der ganzen Schöpfung.
    Mühelos entsinne ich mich, rufe ich mir in die Erinnerung, welche Geräusche das Morgengrauen auf unserer Insel Xaltócan begleiteten, habe ich sie wieder in meinen altersschwachen Ohren. Erwachen tat ich beim Ruf des Frühvogels Pápan, der seine vier Töne zwitscherte – »Papaquiqui, papaquiqui!« – und die Welt aufforderte: »Aufstehen, singen, tanzen, glücklich sein!« Manchmal wachte ich auch zu dem noch frühmorgendlicheren Geräusch auf, das meine Mutter machte, wenn sie den Mais im Métlatl-Stein mahlte oder klatschend den Maismehlteig zu den großen dünnen Rundfladen des Tláxcala-Brotes formte, die ihr heute Tortillas nennt.
    Mühelos, ohne mich anstrengen zu müssen, erinnere ich mich der heißen Mittage, da Tonatíu – die Sonne – in all seiner jugendlichen Kraft heftig seine Flammenspeere schwenkte, während er auf dem Dach des Universums stand und mit dem Fuß aufstampfte. Im schattenlosen Blaugold der Mittagszeit schienen die Berge um den See Xaltócan herum zum Greifen nahe. Wenn ich's recht bedenke, ist das vielleicht sogar meine früheste Erinnerung – ich muß damals knapp zwei Jahre alt gewesen sein und kann noch nicht gewußt haben, was Entfernungen sind –, denn der Tag und die Welt um mich herum lechzten nach Luft, und es verlangte mich, etwas Kühles zu berühren. Noch heute weiß ich, wie baß erstaunt ich war, als ich den Arm ausstreckte und das Blau des bewaldeten Berges, der doch so klar und greifbar nahe vor mir aufragte, nicht berühren konnte.
    Genauso mühelos erinnere ich mich, wie die Tage endeten, da Tonatíu zum Schlafen seinen schimmernden Federumhang um sich zog und sich herabsinken ließ auf sein weiches Lager aus vielfarbigen Blütenblättern und darin in Schlaf versank. Er hatte sich an Den Dunklen Ort, Mictlan, zurückgezogen, wo wir ihn nicht mehr sehen konnten. Von den vier Gegenwelten, in denen unsere Toten weilen konnten, war Mictlan die am tiefsten gelegene Wohnstatt der ganz und gar und unerlösbar Toten, der Ort, wo nichts geschieht, jemals geschehen ist oder geschehen wird. Nur aus Mitleid pflegte Tonatíu Dem Dunklen Ort der hoffnungslos Toten eine Zeitlang sein Licht zu spenden (eine kurze Zeit nur verglichen damit, wie lange er uns damit beschenkte).
    Mittlerweile stieg in Der Einen Welt – oder zumindest auf Xaltócan, der einzigen Welt, die ich kannte – blaßblauer Dunst vom See auf, so daß die dunkelnden Berge ringsum darauf zu schweben schienen, zwischen dem roten Wasser und dem violetten Himmel. Dann blinkte eben über dem Horizont, wo Tonatíu verschwunden war, für eine Weile Omexóchitl, der Abendstern Nach Blume auf. Dieser Stern kam, Nach Blume ließ uns nicht im Stich, sondern versicherte uns, daß – wiewohl die Dämmerung einsetzte – wir nicht zu fürchten brauchten, diese Nacht werde so finster werden wie das Vergessensdunkel des Dunklen Ortes. Die Eine Welt lebte und würde auch weiterhin am Leben bleiben.
    Mühelos kommt mir die Erinnerung an die Nächte und an eine Nacht im besonderen. Metztli, der Mond, hatte seine monatliche Sternenmahlzeit beendet und war rund und satt, hatte sich den Bauch bis zum Bersten vollgeschlagen, so daß die Gestalt des Kaninchen im Mond deutlich darauf zu erkennen war wie eine Steinmetzarbeit an einer Tempelwand. In dieser Nacht – ich muß damals drei oder vier Jahre alt gewesen sein – setzte mein Vater mich auf seine Schulter und hielt mich fest an den Fußgelenken gepackt. Seine weitausgreifenden Schritte trugen mich durch den kühlen Schimmer und das noch kühlere
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